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Cover Lettre International 69, Breyten Breytenbach
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LI 69, Sommer 2005

Geheimsache Irakkrieg

Ein Memorandum enthüllt das falsche Spiel mit UNO und Öffentlichkeit

(...) Am 23. Juli 2002, acht Monate vor dem Einmarsch amerikanischer und britischer Truppen, trafen hohe britische Beamte mit Premierminister Blair zusammen, um über den Irak zu sprechen. An diesem Treffen, vergleichbar dem amerikanischen principals meeting, nahmen teil Geoffrey Hoon, der Verteidigungsminister, Jack Straw, der Außenminister, Lord Goldsmith, der Justizminister, John Scarlett, Chef des Joint Intelligence Committee (JIC = Geheimdienstausschuß), das den Premierminister berät, Sir Richard Dearlove, auch als „C“ bekannt, der Chef des MI6 (der Entsprechung des MAD), David Manning, Blairs außenpolitischer Berater, Admiral Sir Michael Boyce, der Chef des Verteidigungsrates (CDS), Jonathan Powell, Blairs Sprecher, Alastair Campbell, Strategieberater (Blairs Kommunikationschef), sowie Sally Morgan, Regierungsberaterin.

Nachdem John Scarlett den Anfang mit einer Zusammenfassung der Erkenntnisse über den Irak gemacht hatte – vornehmlich, daß „das Regime hart ist und auf extremer Angst gründet“ und daß daher die „einzige Möglichkeit, es zu stürzen, wahrscheinlich ein massives militärisches Vorgehen“ sei, trug „C“ einen Bericht über seinen Besuch in Washington vor, wo er Gespräche mit George Tenet, seinem Pendant bei der CIA, und anderen hohen Beamten geführt hatte. Diese Passage ist wert, vollständig zitiert zu werden:

C berichtete von seinen jüngsten Gesprächen in Washington. Es gebe einen spürbaren Einstellungswandel. Ein Militäreinsatz werde nun als unvermeidlich angesehen. Bush wolle Saddam durch einen Militäreinsatz beseitigen, der durch die Verbindung von Terrorismus und MVW gerechtfertigt sei. Doch Erkenntnisse und Fakten würden im Sinne der Politik behandelt. Der NSC [Nationale Sicherheitsrat] halte vom UN-Kurs nichts und sei nicht daran interessiert, Material über die Taten des irakischen Regimes zu veröffentlichen. In Washington werde wenig über die Situation nach einem Militäreinsatz gesprochen.“

Aus heutiger Sicht ist dieser kurze Absatz eine verblüffend klare Schablone für die Zukunft, indem er die folgenden Punkte festhält:

1. Mitte Juli 2002, acht Monate vor Beginn des Krieges, hatte Präsident Bush beschlossen, in den Irak einzumarschieren und ihn zu besetzen.

2. Bush hatte beschlossen, den Krieg „durch die Verbindung von Terrorismus und MVW“ zu rechtfertigen.

3. Damals bereits wurden „Erkenntnisse und Fakten im Sinne der Politik behandelt“.

4. Viele an der Spitze der Regierung wollten nicht das Einverständnis der Vereinten Nationen suchen (den „UN-Kurs“ nehmen).

5. In Washington herrschte offenkundig geringes Interesse daran, wie es nach dem Krieg weitergehen würde.

Dank Bob Woodward und anderen wissen wir seit langem, daß die militärischen Planungen für den Irakkrieg schon am 21. November 2001 begannen, nachdem der Präsident Verteidigungsminister Donald Rumsfeld aufgetragen hatte, zu prüfen, „was nötig wäre, Amerika zu schützen, indem Saddam Hussein beseitigt wird, falls wir dies müssen“, und daß Rumsfeld und General Tommy Franks, der Chef des Central Command, hochrangige amerikanische Beamte über den Fortgang der Militärplanungen im Laufe des Frühjahrs und Sommers 2002 unterrichten sollten; ja, wenige Tage nach dem Londoner Treffen gerieten Nachrichten über spezifische Pläne für einen möglichen Irakkrieg durch Indiskretion auf die Titelseite von New York Times und Washington Post.

Das Downing-Street-Memo bestätigt erstmals, daß Präsident Bush nicht später als Juli 2002 beschlossen hatte, „Saddam durch einen Militäreinsatz zu beseitigen“, daß ein Krieg gegen den Irak „unausweichlich“ sei – und daß nur noch eines zu tun bleibe, nämlich die Modalitäten der Rechtfertigung zu ermitteln und zu entwickeln, das heißt, etwas zu präsentieren, womit der Krieg zu „rechtfertigen“ sei, und die „Erkenntnisse und Fakten … im Sinne der Politik zu behandeln“. Der hohe Wert der in dem Memo wiedergegebenen Diskussion besteht also darin, daß sie für die Regierungen beider Länder eine klare Hierarchie der Entscheidungsfindung zeigt. Spätestens im Juli 2002 war der Krieg beschlossene Sache; zur Debatte stand nur noch die Frage, wie man ihn rechtfertigte – wie man das, was Blair später den „politischen Kontext“ nennen wird, sozusagen „behandelt“. Obwohl der Präsident im Juli schon entschieden hatte, in den Krieg zu ziehen, hatte er im besonderen noch nicht beschlossen, bei den Vereinten Nationen Inspektoren zu fordern; ja, wie „C“ betont, hielten diejenigen im Nationalen Sicherheitsrat – die hohen Sicherheitsbeamten der US-Regierung – „vom UN-Kurs nichts und seien nicht daran interessiert, Material über die Taten des irakischen Regimes zu veröffentlichen“.

Das änderte sich später, weitgehend als Ergebnis der politischen Vorbehalte eben derjenigen, die in 10 Downing Street zusammengekommen waren.

Nachdem Admiral Boyce eine kurze Erörterung der damals vorliegenden Kriegspläne vorgetragen und der Verteidigungsminister ein paar Worte über den Zeitplan gesagt hatte – „der wahrscheinlichste Zeitrahmen der US-Planung für den Beginn eines Militäreinsatzes sei Januar, wobei der Zeitplan 30 Tage vor den Kongreßwahlen beginne“ –, kam Außenminister Jack Straw zum Kern der Sache: Es gehe nicht darum, ob man in den Irak einmarschiere oder nicht, sondern darum, wie man eine solche Invasion rechtfertige: „Der Außenminister sagte, er wolle [den Zeitrahmen des Krieges] noch diese Woche mit Colin Powell erörtern. Es scheine klar, daß Bush sich für einen Militäreinsatz entschlossen habe, auch wenn über den Zeitrahmen noch nicht entschieden sei. Doch die Begründung sei dünn. Saddam bedrohe seine Nachbarn nicht, und sein MVW-Potential sei geringer als das Libyens, Nordkoreas oder des Iran.“ (...)

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