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Cover Lettre International 89, Leiko Ikemura
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LI 89, Sommer 2010

Die Istanbuler

Ein Freund, Istanbuler Grieche, erzählte mir folgende Geschichte: Er aß in einem Fischlokal am Bosporus mit einer Männerpartie zu Mittag. Unter den Gästen waren zwei hohe Funktionäre des Außenministeriums in Ankara. Es war ein schöner Tag mit Sonnenschein und ruhigem Meer, und sie genossen das Mittagessen. Plötzlich sagte einer der beiden Funktionäre: „Istanbul ist sehr schön. Wie schade, daß es nicht türkisch genug ist.“

 

Mein Freund war entsetzt, aber ich konnte den Einwand des Funktionärs gut nachvollziehen. Als hoher Vertreter eines nationalen Kerns, der in der Türkei „der tiefe Staat“ genannt wird, fühlte er sich in dieser weltoffenen Stadt nicht zu Hause. Zwar betraf seine Bemerkung frühere Zeiten, denn Istanbul ist nicht mehr so, wie es war, aber genau das zeigt das Ausmaß der Vorurteile, die in der restlichen Türkei und vor allem bei den Staatsfunktionären von Ankara über Istanbul herrschen.

 

Bis in die sechziger Jahre war Istanbul eine Stadt, die nur von Minderheiten bewohnt und geprägt wurde. Griechen, Armenier und Juden lebten seit Jahrhunderten in Istanbul. Sie hatten hier ihre Gemeinden, ihre Kirchen und Synagogen und ihre Schulen.

 

Das erste Zeugnis dieser Minderheitengesellschaft war das Sprachengewirr auf den Straßen. Der Fußgänger, der Ende der fünfziger Jahre im Stadtzentrum, in Beyoglu, einen Spaziergang machte, hörte sieben Sprachen gleichzeitig: Türkisch, Kurdisch, Griechisch, Armenisch, sephardisches Jüdisch, Französisch und Italienisch. Andererseits gab es Viertel, in denen nur eine dieser Sprachen gesprochen wurde. Es waren die Viertel, in denen die Minderheiten lebten. In Kurtulus hörte man fast nur Griechisch, in Samatya Armenisch und in Kuledibi fast nur Ladino, das sephardische Jüdisch.

 

Der Vorrang einer Sprache je nach Stadtviertel zeigt, daß die Minderheiten nebeneinander und nicht miteinander lebten. Das hatte verschiedene Gründe. Der erste hatte mit den Grundwerten der Minderheit zu tun: der Religion und der Sprache. Die Minderheiten verteidigten diese Werte, indem sie sich von der Mehrheit, den Türken, und von den anderen Minderheiten abgrenzten. Das ließ sich leichter erreichen, wenn man in bestimmten Vierteln Mehrheitsverhältnisse schuf.

 

Zudem setzten sich die griechischen und die armenischen Minderheiten nicht nur aus gebürtigen Istanbulern zusammen. Zu der armenischen kamen noch die wenigen Armenier, die den Genozid überlebt hatten, und zu den griechischen die Pontos-Griechen aus dem Schwarzmeergebiet. Diese Schichten kamen mit den Wunden des Völkermords und der Vertreibung und fühlten sich nur in jenen Vierteln in Sicherheit, in denen die Minderheit, zu der sie gehörten, als Mehrheit funktionierte. Das trug zur weiteren Abkapselung der Minderheiten bei. Je größer die Minderheit, desto selbständiger kann sie ihr Leben gestalten, ohne auf die Mehrheit oder auf die anderen Minderheiten angewiesen zu sein.

 

Die Juden gingen einen anderen Weg. Als sie nach ihrer Vertreibung aus Spanien im Osmanischen Reich akzeptiert wurden, kamen sie in ein völlig fremdes Land mit anderen Sitten und einer anderen Lebensweise. Sie gründeten ihre eigenen Gemeinden und lebten auf sich selbst bezogen. Die Abgrenzung war für sie eine Überlebensfrage.

 

Die getrennte Lebensweise der Minderheiten weist Merkmale auf, die eine nähere Betrachtung verdienen. Die Juden hatten keine eigenen Schulen, in denen der Unterricht in sephardisch-jüdischer Sprache stattfand. Sie gingen in türkische Schulen. Das hatte den Vorteil, daß sie in der Mehrheitsgesellschaft die Integration viel früher schafften. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hatten, war der Verlust ihrer Sprache. Heute sprechen alle jungen Juden türkisch. Das sephardische Jüdisch ist die Sprache der Alten und stirbt langsam aus. Die Griechen und die Armenier hatten hingegen ihre eigenen Schulen. Sie konnten ihre Sprache bewahren, aber der Integrationsprozeß hat sich erheblich erschwert, weil sie sich der Mehrheitsgesellschaft nicht zu öffnen brauchten.

 

Der Ort, an dem alle Bewohner von Istanbul zusammenlebten, war nicht die Stadt, sondern die Sommerfrische: auf den Prinzeninseln oder am Bosporus. Weil es verhältnismäßig wenige Eigentumswohnungen gab, mieteten die meisten Sommerfrischler ein Sommerhaus. Türken, Griechen, Armenier und Juden lebten dort in enger Nachbarschaft. Meine Familie wohnte im Sommer auf Heybeliada mit jüdischen Familien zusammen, und ich spielte täglich mit deren Kindern. Die gemeinsame Sprache war Türkisch, aber ab und zu sprachen wir in sephardischem Jüdisch zu ihnen, und sie antworteten auf Griechisch. So kam es, daß ich nach einigen Sommern fast fließend Ladino sprach.

 

Ich habe bisher absichtlich nicht von den Türken gesprochen, denn ich vertrete die Ansicht, daß in dieser Istanbuler Gesellschaft auch die Türken eine Art Minderheit waren, und zwar bezogen auf die übrige Türkei. Die soziale Schicht der Istanbuler Türken gab es in keinem anderen Teil – weder des Osmanischen Reichs noch der Türkischen Republik. Nur in Izmir lebte ebenfalls eine kleine Schicht von gebildeten Türken und Levantinern.

 

Die Mehrheit der Istanbuler Türken hatte fast die gleichen kulturellen Merkmale und dieselbe Bildung wie die Minderheiten. Es gibt in Istanbul noch heute sechs französischsprachige Gymnasien, zwei englischsprachige, zwei deutschsprachige und ein italienisches Gymnasium, dazu noch die Schulen der Minderheiten. Das französischsprachige staatliche Gymnasium Galatasaray, auch „Schule des Sultans“ genannt, wurde bereits im Jahre 1481, also 28 Jahre nach der Eroberung Istanbuls, eröffnet.

 

Die Minderheiten, die türkische inbegriffen, haben die Kultur der Stadt geprägt. Istanbul verfügte schon zu osmanischen Zeiten über ein breites Bildungsbürgertum, zu dem sowohl ein großer Teil der türkischen Mehrheit als auch die Minderheiten gehörten. Dieses Bildungsbürgertum verfügte über eine gute Ausbildung, sprach mindestens eine Fremdsprache, war weltoffen und gereist. Die türkische Mehrheit, aber auch Teile der griechischen Minderheit waren die Säulen des Osmanischen Reichs. Es war dieses Bildungsbürgertum, das im Tanzimat, dem Zeitalter der Reformen, das Reich dem Westen öffnete.

 

Der Begriff „Istanbuler“ entstammt dieser Diversität. „Istanbuler“ ist weder eine Ortszugehörigkeit noch hat der Begriff mit der Geburt oder mit den Familienursprüngen zu tun. Vielmehr bezeichnen sich jene Bewohner der Stadt als Istanbuler, welche deren langjährige Geschichte und Kultur von der byzantinischen bis zur osmanischen Zeit als ein kontinuierliches Ganzes wahrnehmen. Diese alteingesessenen Einwohner, ob Türken, Armenier, Griechen oder Juden, nennen sich Istanbuler, weil sie Istanbul mehr geprägt hat als ihre nationale oder religiöse Zugehörigkeit.

 

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