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Cover Lettre International 85, Daniel Richter
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Inhaltsverzeichnis

LI 85, Sommer 2009

Künstler und Diktatoren

Die Energien der Avantgarde und die Vision vom Neuen Menschen

(...) Am Anfang des 20. Jahrhunderts registriert man in Europa einen Wandel der Lebensformen, den wir heute nur schwer nachvollziehen können, weil es seither zu einer atemberaubenden Fülle von Veränderungen gekommen ist. Aber versetzen wir uns für einen Augenblick in den Einwohner einer großen Metropole der damaligen Zeit: Er erlebt eine wahre Umwälzung seiner Gewohnheiten. Soeben ist es gelungen, die Elektrizität zu beherrschen, und sie hält Einzug ins Alltagsleben von Millionen Menschen. Neue Energiequellen, die sich bequemer als die früheren einsetzen lassen – Gas, Benzin – werden allgemein bekannt. Mit den ersten Flugzeugen wird der jahrtausendealte Traum verwirklicht, die Erdoberfläche zu verlassen und davonzufliegen. Das private Auto rollt auf den Straßen aller Länder. Die industrielle Revolution verändert das Leben der Bevölkerung tiefgreifend und scheint vor allem eine Reihe von Erfindungen einzuleiten, die noch lange nicht am Ende ist. Der Teil der Menschheit, der die westliche Welt (Westeuropa und Nordamerika) bevölkert, hat zum ersten Mal in seiner Geschichte den Eindruck, daß die Neuerung über die Tradition siegt, daß die vom Menschen geschaffenen Werke mehr als die Naturerscheinungen zählen: Es scheint, als werde nun das kartesianische Programm verwirklicht, daß der Mensch zum Herrn und Besitzer der Natur aufsteigt.

In allen Gesellschaften, wo sie auch immer existieren, geben sich die schaffenden Künstler, insbesondere Dichter und Maler, nicht damit zufrieden, Werke zu produzieren, die den Ansprüchen der Schönheit gerecht werden; offenbar findet man unter ihnen jene Geister, die am empfänglichsten für die Zeitstimmung sind und die solche Tendenzen wahrnehmen, wie sie für die übrige Bevölkerung noch unbewußt sind, selbst wenn sie in ihrem Verhalten schon deren Einfluß zeigt. Es werden also wieder die Künstler sein, die als erste die von den außerordentlichen Fortschritten der Technik herbeigeführten sozialen und psychischen Wandlungen erfassen. Die erste Avantgardebewegung, die diesen Weg einschlägt und für die folgenden ein Modell schafft, ist die des italienischen Futurismus.

Ihr Gründer und Anreger ist Filippo Tommaso Marinetti (1876 bis 1944), der eine in der Tradition unbekannte Künstlerpersönlichkeit verkörpert. Als Autor von Romanen, Theaterstücken und Gedichten beweist Marinetti kein großes Schriftstellertalent. Ebensowenig ist er ein origineller Denker – hingegen stellt er sich als ein außerordentlich begabter Aktivist heraus. Selbst die Umstände der Verbreitung seines ersten Manifestes sind aufschlußreich. Marinetti hat seinen Text mit provokanten Formeln gespickt, die „den Bourgeois schockieren“ können, und ihn an die italienische Presse geschickt. Zu seinem Unglück ereignet sich zum gleichen Zeitpunkt, im Dezember 1908, das mörderische Erdbeben von Messina. Das von einem unbekannten Autor unterzeichnete Manifest wird auf die Innenseiten der Zeitungen verbannt und findet keine Beachtung. Nun kann aber das Werk Marinettis nicht ohne Widerhall beim Publikum existieren. Deshalb beschließt er, sich nicht mehr an die italienische Presse, sondern an die Frankreichs zu wenden – die zunehmende Internationalisierung des Kulturlebens ist eine Auswirkung der schnellen technologischen Umgestaltung der Welt. Das erste Manifest des Futurismus wird am 20. Februar 1909 in Le Figaro veröffentlicht und erregt großes Aufsehen.

Es enthält ein Lob des modernen Lebens, der Großstadt, der Maschinen und der Geschwindigkeit – alles Themen, die gewiß auch bei anderen Autoren vorkommen, die aber von Marinetti zusammengefaßt werden und die er hervorhebt, indem er sie auf Schlagworte reduziert. Er ordnet sie jedoch, und in dieser Hinsicht ist er origineller, in einen größeren Rahmen ein: den eines Aufrufs, jeden Bezug zur Vergangenheit zu beseitigen und den Kult des Neuen zu zelebrieren. Jene Orte, die die Erinnerungen an die Vergangenheit bewahren, verdienen ihr Dasein nicht. „Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! (…) Reißt die ehrwürdigen Städte nieder!“ Erst nachdem man alles Vorhandene vollständig zerstört habe, könne man sich an einen neuen Aufbau wagen. Marinetti zeigt außerdem, daß er eine weitere Wahl getroffen hat, die für ihn eine maßgebliche Rolle spielen wird, daß er sich nämlich für den Übermenschen Nietzsches entschieden hat. Das veranlaßt ihn, Gewalt, Aggressivität, Kampf, Krieg („die einzige Welthygiene“), Männlichkeit (was „die Verachtung der Frau“ mit sich bringt) und Ungerechtigkeit zu rühmen: All dies sind paradoxe Formulierungen, die sich eignen, auf ihn aufmerksam zu machen.

Das erste Manifest spricht nicht direkt von einer „futuristischen“ Aktion außerhalb des Kunstbereichs. Doch Marinettis Entscheidungen haben eine Bedeutung, die das gesamte gesellschaftliche Leben betrifft. Er selbst geht bald auf diesem Weg weiter – jedoch werden ihm nicht alle Künstler und Lyriker folgen, die sich gerade seiner Bewegung angeschlossen haben. Noch im selben Jahr 1909 veröffentlicht er anläßlich der allgemeinen Wahlen ein Politisches Manifest an die futuristischen Wähler. Darin formuliert er mehrere Richtlinien: Man müsse Reaktion und Klerikalismus bekämpfen, den Patriotismus fördern und Italien an Eroberungskriegen beteiligen. Andere Flugblätter und Proklamationen aus derselben Zeit, die sich vom revolutionären Syndikalismus anregen ließen, wie ihn Georges Sorel theoretisch begründet hat, rufen Proletarier und Künstler – „die extremistischen Flügel der Politik und der Literatur“ – zum gemeinsamen Kampf auf. Marinetti engagiert sich auch für den Krieg, den Italien 1912 in Libyen führt, und unterzeichnet zahlreiche entsprechende Artikel. Sein Patriotismus spielt eine immer wichtigere Rolle: „Das Wort Italien muß viel heller als das Wort Freiheit glänzen.“ Außerdem dehnt sich der Futurismus auf neue Bereiche aus: Malerei, Musik, Theater, Varieté, aber auch Architektur, Alltagsgegenstände, Raumkunst, Kleidung.

Im Jahre 1911 veröffentlicht Marinetti (weiter auf Französisch) eine Sammlung seiner mündlichen und schriftlichen Stellungnahmen unter dem Titel Der Futurismus. Bald wird dieser Band in mehrere andere Sprachen übersetzt. Man findet darin wieder, daß er sich mit dem verbunden fühlt, was er das „absolute Prinzip des Futurismus“ nennt, nämlich „das kontinuierliche Werden und den unendlichen physiologischen und intellektuellen Fortschritt des Menschen.“ Es handelt sich tatsächlich um ein Projekt zur Umgestaltung des Menschen und nicht nur der Künste, und es betrifft zugleich den menschlichen Körper und Geist. Der Krieg ist immer noch „die einzige Hygiene der Welt“, und der Kampf gegen den Feind bleibt notwendig, „gegen den ewigen Feind, den man erfinden müßte, wenn es ihn nicht gäbe“. Die Verachtung der Frau, das Thema eines anderen Kapitels, wird mit weiteren Argumenten begründet: Marinetti haßt vor allem die von den Frauen verkörperten Werte – Liebe, Zärtlichkeit, Wollust. Er meint, die Frauen seien der Natur zu nahe, und durch das Gebären sichern sie bloß die Fortpflanzung der Gattung, während er ihre Verbesserung anstrebe. Tatsächlich träumt er davon, „eines Tages unseren mechanischen Sohn als Frucht des reinen Willens und Synthese aller Gesetze zu erschaffen, deren Entdeckung die Wissenschaft beschleunigen wird“. Den neuen Menschen bezeichnet er als „vervielfältigten Menschen“, dessen psychische Wandlung er so beschreibt: „Wir zielen auf die Schaffung eines Men-schentyps, in dem der moralische Schmerz, die Güte, der Affekt und die Liebe abgeschafft wären“, die Schaffung eines wahrhaft stählernen Menschen, der sich mit dem Eisen vereint und sich von Elektrizität nährt. Marinetti denkt ebenfalls auf recht prophetische Weise an das Eindringen neuer Technologien in die Welt, an eine Energie chemischen Ursprungs, ein hunderttausend Seiten enthaltendes metallisches Buch, einen Krieg zwischen Maschinen.

(...)

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