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Lettre aktuell 3/2023



Lettre International 142 / Neue Ausgabe


 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,

heute, am 28. September 2023, erscheint das Herbstheft von Lettre International, Nr. 142. Sie finden es im Buchhandel, am Kiosk, an Bahnhöfen und Flughäfen und können es direkt ab Verlag erwerben. Es bringt erhellende, originelle und kraftvolle Texte zu politischen und kulturellen Situationen der Gegenwart, es bringt Theater und Oper, Film und Literatur zur Sprache und vorurteilsfreie, authentische Betrachtungen eines Galeristen zur Kunst als Leidenschaft und zum Kunstmarkt.


EIN ÜBERBLICK

Wir konstatieren dramatische Veränderungen der Weltpolitik durch den russischen Überfall auf die Ukraine, beleuchten das „politische 20. Jahrhundert“ vom Attentat in Sarajewo 1914 bis zum Abschuß einer malaysischen Passagiermaschine 2o14: Wie die Würfel fallen; wir erkunden geopolitische Umbrüche in Mitteleuropa: Von Kundera bis Kiew; wir erinnern an den Sturz einer Militärdiktatur vor fast 50 Jahren und die Durchsetzung der Demokratie in ganz Westeuropa. Griechenland: Das Machtgefüge der Nachkriegszeit; wir entdecken religiöse Wurzeln der Wokeness und beleuchten die Widersprüche von Identitätspolitik und Universalismus: Doing the Work; wir fragen nach Wunsch und Wirklichkeit im Humboldt Forum: Arbeit am Erbe; wir bestaunen und untersuchen eine unerwartete Künstlichkeit: Die Pflanzenwelt; wir widmen uns innigen Beziehungen von Literatur und Existenz: Die Kunst des Romans; wir akzentuieren die Bedeutung von Poesie und Sprache für kleine Nationen: Slowenische Literatur. Ein Kunstgalerist erzählt aus seinem turbulenten Leben, spricht über Kunst und Kunstmarkt, Geld und Spiritualität und große Künstler: Im magischen Garten. Regiegrößen und Vordenker aus Theater, Musiktheater und Film schildern Kämpfe, Karrieren und Bühnenabenteuer: Ethik der Arbeit, Zeitkunst Film und Szenische Autobiographie. Wir begegnen Depardieus Dämonen und werden zu Zeugen von Aufstieg und Fall dieses „heiligen Monsters“. Und wir fragen uns: „Wer kann schweigen?“ Der amerikanische Maler Eric Fischl gestaltet das Heft künstlerisch und bezaubert mit wundervollen Arbeiten auf Papier: Figures

GESCHICHTE UND FREIHEIT

Von Kundera bis Kiew führt die glasklare Analyse des Europäers Jacques Rupnik. Ausgehend von Milan Kunderas bahnbrechendem Essay Die Tragödie Mitteleuropas erinnert er an die visionäre Klarheit dieses 1983 erstmals veröffentlichten Textes, dessen Thema – der Antagonismus der kulturellen und politischen Systeme der Sowjetunion bzw. Rußlands und denen West- und Mitteleuropas – mit dem Überfall auf die Ukraine erneut brennende Aktualität erlangt hat.

Das politische 20. Jahrhundert hat eine größere zeitliche Reichweite als das „Jahrhundert der Extreme“ von 1914–1991, wie Eric Hobsbawm es faßte. Für den Historiker Hans Gutbrod endet das politische 20. Jahrhundert erst im Sommer 2014. Im Frühjahr hatte Rußland die Krim annektiert; am 17. Juli desselben Jahres wurde der malaysische Flug MH-17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur mit 298 Menschen an Bord von moskautreuen Milizen über der Ukraine abgeschossen. Der Kreml leugnet bis heute jede Verantwortung: Keine Entschuldigung, keinerlei Entschädigung. Dieses Ereignis symbolisiert eine pathologische Wende des Kremls gegen die internationale Ordnung und ist ein Spiegelpunkt des Initialereignisses des 20. Jahrhunderts, des Attentats auf den Thronfolger der k. u. k. Monarchie Franz Ferdinand 1914 in Sarajewo, welches zum Auslöser des Ersten Weltkriegs wurde. Die deutsche Politik reagierte auf dieses Verbrechen mit Schlummer, Verdrängung, Schlafwandelei. Hätte ein weniger unbedarfter und ökonomisch vorteilsorientierter Blick auf Putins Rußland geholfen, die Grenzüberschreitung in Richtung Ukraine-Krieg zu verhindern? Ein wirklichkeitsgesättigstes Plädoyer für Illusionslosigkeit und einen robusteren Multilateralismus: Wie die Würfel fallen.

Der holländische Publizist Ian Buruma, wegen Verstoßes gegen die vermeintliche Political Correctness 2018 vom Chefredakteursposten der New York Review of Books entbunden, identifiziert scharfzüngig religiöse Wurzeln der Wokeness und die damit einhergehende Verabschiedung vom Universalismus, nicht nur in den USA. „Sich für eine Meinung entschuldigen zu müssen, die nicht den zeitgenössischen moralischen Überzeugungen entspricht, ist etwas, das man eher in ideologischen Diktaturen erwarten würde oder in Religionsgemeinschaften“, als in aufgeklärten demokratischen Gesellschaften. Die Dokumentation der eigenen Tugendhaftigkeit durch Rituale öffentlicher Bekenntnisse und Entschuldigungen, der moralische Eifer, die Selbstgefälligkeit des eigenen Auserwähltseins aufgrund überlegener Tugendhaftigkeit, der paranoide Stil eines spirituellen Kampfes zwischen Gut und Böse ... all dies hat Wurzeln im Protestantismus, im Calvinismus und im evangelikalen Eifer des „Great Awokening“ des amerikanischen 18. und 19. Jahrhunderts. „Anders als während des ersten Great Awakening ist die derzeitige Puritanismus-Welle nicht auf naive Landbewohner beschränkt, die sich in behelfsmäßigen Gebetszelten versammeln, sondern hat auch eine hochgebildete urbane Schickeria erfaßt. Heute sind die Erwählten fast ausschließlich in elitären Institutionen tätig: in Banken und globalen Unternehmen, in prestigeträchtigen Kulturstiftungen, Museen und medizinischen Organisationen, in Qualitätszeitungen und Literaturmagazinen.“ „Selbstgerechtigkeit hat einen starken Beigeschmack von Heuchelei, wenn diejenigen, die von einer bestimmten politischen und wirtschaftlichen Ordnung profitieren, auch noch moralische Überlegenheit für sich beanspruchen und ihre Kritiker als Sünder anprangern. Schlimmer noch: Der Moralismus der kulturellen Politik und das obsessive Beharren auf Race, Geschlecht und Gender verdecken nicht selten das grundlegende Problem unserer Zeit: die gefährliche Kluft zwischen Reichen und Armen.“ Doing the work. Die protestantische Ethik und der Geist der Wokeness.

Martin Burckhardt vertieft sich in eine Spielart des Totalitarismus, die sich weniger aus einer politischen Ideologie, denn aus einem Vakuum speist. Ein geheimer Souverän, von der Welt abgeschirmt, im Zustand vollendeter Unsicherheit; wäre er sichtbar, sähe man eine Fernbedienung in seiner Hand. Man sähe, wie er die Welt auf dem Bildschirm in sich hineinstopft. Wenn er, die Fernbedienung in der Hand, sein Zepter schwingt, so empfindet er phantastische Macht, zappt sich durch sein Reich, stets auf der Suche nach etwas nie Dagewesenem. Tatsächlich ist dieser König allein mit seinem Fernseher, einsam in seinem Schattenkabinett. Doch dieser König, namenlos und unsichtbar, ist das Objekt allumfassender Betriebsamkeit. Man kämpft um seine Aufmerksamkeit, Heerscharen von Deutern und Psychographen rechnen den Weg seines Fingers hoch zu Trends und Tendenzen. Das einstige Mündel Lieschen Müller ist Vormund geworden und übt eine Art von Terrorregime aus: Die Fernbedienung ist zur telematischen Guillotine geworden. Über Souveränität und Macht im telematischen Gesellschaftsgebilde des Networks. Die Macht des Monsters.

Das Humboldt Forum ist eine totale Tatsache. Doch was ist eigentlich konzeptionell aus diesem spektakulären Forum geworden, fragt Kulturwissenschaftler Peter Probst. Pompöse Vokabeln wurden ins Spiel gebracht, als es darum ging, Sympathie für den Wiederaufbau des Preußen-Schlosses zu gewinnen; die Neubelebung der Schloßfassade aus dem Geist des Multikulturalismus schien das geeignete Rezept, die Restaurationsbedenken der liberalen Öffentlichkeit zu entkräften. Ausgerechnet das geläuterte und umgepolte Preußen-Schl0ß wurde prospektiv zum weltweit wichtigsten Forum für den Dialog der Kulturen der Welt erklärt. Doch das Reklame-Pathos ist verraucht. Im Laufe von zwei Jahrzehnten hat das Humboldt Forum seine Vision und seine Aura verloren. Gemessen an den Versprechungen erscheint es heute als konzeptuelle Ruine. Es behauptet sich im Niemandsland zwischen nationalem Erfahrungsraum und dekolonialem Erfahrungshorizont. Ohne eigene Agenda läßt es sich von äußeren Kräften treiben und kommt immer zu spät; ein faszinierendes, zeitadäquates Programm mit Weltpanorama fehlt. Wann legt die hochsubventionierte Kulturinstitution endlich ein überzeugendes Programm vor? Arbeit am Erbe – eine Analyse

Bora Ćosić verfolgt Spuren und Zeichen der innigen menschlichen Suche nach einer Verwandtschaft mit anderen Formen natürlichen Lebens. Teilnahmsvoll pflegt man die Pflanze im Topf, empfindet man zart mit einer Blume. Ćosić staunt über Pflanzenfreunde, die alles Botanische zu anthropomorphisieren suchen. Für ihn ist Pflanzenwelt nicht nur nicht verwandt, sondern im Gegenteil höchst artifiziell, so wie auch der Mensch verwunderlich ist. Der kleine Tod der Rose am Revers ist ein Indiz für den Drang des menschlichen Geistes, die Pflanzen den eigenen Lebensidealen zu unterwerfen. Der Autor lädt uns ein zu einer literarischen Exkursion durch Baumschulen und Kräuterparks, botanische Gärten und Klassifizierungsweisen. Die Naturalienkabinette, die gartenkünstlerischen Geometrien, die Blumenrabatten der Parkanlagen sind Imitationsweisen einer Natur, deren realer Ursprung sich umso mehr entzieht, je raffinierter unsere Annäherungsversuche an diese werden: Die Pflanzenwelt.

Antonis Liakos schildert am Beispiel Griechenlands die demokratische Neuordnung Europas nach 1945 und nach dem Sturz der sich zum Westen zählenden europäischen Diktaturen. Bleierne Zeiten herrschten, solange die Diktaturen Francos in Spanien, Salazars in Portugal und der Obristen in Griechenland ihre Länder im eisernen Griff hatten. 1967 hatten sich die griechischen Obristen an die Macht geputscht. Das blutige Eingreifen des Militärs am von Studenten besetzten Athener Polytechnikum im Herbst 1973 war der Auftakt zum folgenden Sturz der Diktatur im Juli 1974. Im April 1974 hatte die portugiesische Nelkenrevolution der autoritären Herrschaft und dem Kolonialismus ein Ende bereitet. 1975 endete schließlich der Franquismus in Spanien. Die Zeit der Diktaturen in Westeuropa war abgelaufen. Europas Machtgefüge der Nachkriegszeit.

POESIE

Vier Gedichte Raoul Schrotts zur Gegenwart widmen sich Topographien des Menschenmöglichen. Ihre Schauplätze sind die Front nach der Dämmerung, Schützengräben in der Ukraine, Haus und Weizenfelder im Nebel zwischen zersplitterten Bäumen oder die an Klippen klebenden Klöster der Mönche im Wolkenkuckucksheim in den Felsenlandschaften des griechischen Meteora.

LITERATUR UND KUNST

Der französische Schriftsteller Pierre Michon offenbart im Gespräch mit Nicolas Dutent seine existentielle Gespanntheit auf der Suche nach und beim Finden der Sprache seiner Texte: „Befinde ich mich in einer Schreibphase, ist es ein Sturm. Damit mich ein Text erschüttert, muß jeder Satz wie ein wahrer Blitz einschlagen, und wenn ich selbst schreibe, kann ich keinen Satz hinschreiben, den ich nicht als Blitz empfinde. Solche Blitze lösen in mir eine Art Trance aus, eine ruhige Trance, aber eine fortwährende Berauschtheit. Wenn mich der Rausch verläßt, kann ich nicht mehr schreiben. Das Schreiben ist eine Gesamtheit, das Herz, die Intelligenz, die Verfügbarkeit aller Wörter, die es gibt, das Gefühl, am Trieb der Welt teilzuhaben. (...) Der Satz kommt ganz von selbst. (...) Den Stil verteidigen, das heißt sich auf eine Verteidigung der Schönheit der Wortverbindungen einlassen, nicht mehr. Und eines der Ziele des Schreibens ist es, Schönheit zu erzeugen.“ Ein gewittriges Gespräch: Jeder Satz ein Blitz.

Milan Kundera vermittelt Massimo Rizzante in den Jahren 2001 bis 2013 literarische Grundüberzeugungen und Erfahrungen mit Leben und Schreiben, Politik und Kultur: „Der Schriftsteller hat seine Wurzeln nicht in einem Land, sondern er schlägt seine Wurzeln in bestimmten existentiellen Themen, die ihn faszinieren und zu denen er etwas zu sagen hat. Er orientiert sich am Zauberkreis existentieller Neugierden, also im Kreis von Themen, die ihn traumatisiert haben, die ihn an die Grenze getrieben haben, die er aus diesen Erfahrungen heraus gründlich erforschen will.“ Eine Unterhaltung über die großen Romane Kunderas, über den Gegensatz von Poesie und Lyrismus, poetische Ideale und antilyrische Poesie, über architektonische Strukturen, über Sonate und Fuge, über Spiel, Reflexion und Vorstellungskraft sowie die Komposition in der Kunst des Romans.

Der Photograph und Schriftsteller Evgen Bavčar schildert vor dem Hintergrund der Brüchigkeit der Konturen und Grenzen und den nicht selten fremdbestimmten Schicksalen kleiner Nationen die essentielle Bedeutung von Poesie und Literatur für die nationale Identität solcher politischer Entitäten. Es sind die Dichter, die Bewahrer der Sprache, welche die Besonderheit und Kontinuität der Kultur relativ machtloser Identitäten erhalten können. Die Slowenen existierten über Jahrhunderte in einem Raum des Schweigens und der Stille. Die Weltkriege und die Teilung Europas im 20. Jahrhundert zogen Slowenien in ihren Malstrom. Die slowenische Literatur ähnelte einer Exilliteratur, doch für das slowenische Volk blieb sie stets eine innere Angelegenheit auf Leben und Tod und sie wurde leidenschaftlich verteidigt. Jene Schriftsteller, welche die Idee eines unabhängigen Sloweniens aufrechterhielten, wurden zu den eigentlichen Begründern des heutigen slowenischen Staates: Slowenische Literatur.

„2017 war endgültig Schluß ... Bei Ausstellungen verhielt es sich so: Wenn ich nichts verkauft hatte, war ich depressiv, weil nichts ging. Wenn ich etwas verkauft habe, war ich depressiv, weil die besten Stücke weg waren, die ich insgeheim lieber behalten wollte. Es gab keine eine zufriedenstellende Auflösung dieses Widerspruchs. ... Ich war ein leicht schizophrener Händler, und das zog wie ein roter Faden durch meine Karriere. Traum braucht Raum, und diesen Raum gibt es für einen Händler nicht.“ So resümiert einer der erfolgreichsten Kunstgaleristen Deutschlands, Rafael Jablonka, seinen unwahrscheinlichen Werdegang und seine Erfahrungen als Händler, Sammler und Liebhaber der Kunst. Er war Galerist, Agent, Käufer und Verkäufer, Anreger, Ermöglicher, Ausstellungsmacher. Im Dialog mit Axel Ruoff läßt er uns teilhaben an seinem ungewöhnlichen Lebensweg. Er träumte jung in Polen von den USA als dem Ideal der Freiheit, von Flower Power, freiem Sex, hörte Beatles und Cool Jazz, sah Easy Rider, Yellow Submarine und Filme von Godard, und er ersehnte Rebellion. In Deutschland folgten schüchterne Annäherungen an die noch unbekannte Sphäre der Kunst. Das vielstündige, intensive Interview umkreist Kunst als Investition, Kunsthandel als launisches Geschäft, die heroische Zeit Kölns als Kunstzentrum, Begegnungen mit Größen des internationalen Kunstbetriebs und Erfahrungen mit überragenden Künstlern wie Sherrie Levine, Miquel Barceló, Philip Taaffe, Mike Kelley. Man spricht über Matisse, Hockney, Fischl, Clemente, über Konzepte, Originalität, Handwerk und über Bilder als komplexe Partituren. Jablonkas Lebensgeschehen folgte der leidenschaftlichen Suche nach etwas, das man noch nie gesehen hatte. „Ein Künstler nimmt nichts und macht damit etwas, was noch nicht da war. Worte, Farben sind nichts oder alles, für manche ist das wichtiger als die Wirklichkeit.“ Im magischen Garten.

Man trifft sich auf dem Pariser Herbstsalon, dem großen Fest für die Kunstliebhaber, durchquert die asiatischen Hallen, ohne Unterbrechung gleitet eine Abfolge von Bildern an den Betrachtern vorüber. Ein neues Bild von Khalil Bey namens „Der Einfall des Dschingis Khan“ wird dort enthüllt. Wie ein Wirbelwind fegt auf der Leinwand eine mit Speeren bewaffnete, mongolische Kavallerie von Osten nach Westen. Auf unbeschlagenen, zügellosen Pferden das flachstirnige, großköpfige, hochwangige, kleinnasige, gelbe Volk. Zertrampeltes Gras. Einige Verwundete kriechen in das Fell ausgehöhlter Pferdekadaver, hier und da liegen Reste von Kanonen, Maschinengewehren und Panzern. Im Westen Silhouetten gewaltiger Fabriken, Eisenbahnbrücken, Kathedralen und speerförmiger Kuppeldächer. An der Spitze der apokalyptischen Reiter, auf einem grünen Pferd ein riesiger, rothaariger Mongole mit rotem Umhang. Eine gewaltige reitende Masse, geballt wie eine Wolke, stürmt gleich einem Zyklon in Richtung Westen. „Hier sehen Sie den Angriff Asiens auf uns. Die Geschichte wiederholt sich, auf den d’Orsay werden sie gelbe Fahnen hissen und den Eiffelturm in eine Moschee verwandeln ...“ sagt lächelnd ein Betrachter. Es entbrennen rhetorische Gefechte um Moderne und Schönheit, Kunst und Ekstase im Osten und im Westen ... Konstantine Gamsachurdia: Sturm aus Asien

THEATERMACHER

Er gehört zu den Schlachtschiffen des zeitgenössischen Musiktheaters. Seine Theaterwurzeln liegen politisch in der Studentenbewegung, im großen Streik bei den Kieler Howaldtswerken in den sechziger Jahren, in den Mitbestimmungsexperimenten an deutschen Bühnen, er war Adorno-Schüler: die Rede ist von Klaus Zehelein, einem der maßgeblichen deutschen Musiktheaterdramaturgen und Opernintendanten der letzten 50 Jahre. Vielfach wurde die Staatsoper Stuttgart unter seiner Intendanz zur Oper des Jahres gewählt. Zuvor hatte er als Dramaturg mit dem Generalmusikdirektor Michael Gielen die Städtischen Bühnen Frankfurt zwischen 1977 und 1987 zu legendären Höhepunkten geführt und Oper zum Stadtgespräch gemacht. Verdis Aida unter der Regie von Hans Neuenfels rief einen Theaterskandal hervor, der heute als Verabschiedung einer zur Behäbigkeit neigenden Opernbühne taxiert wird: Zehelein sorgte mit der deutschen Erstaufführung von Luigi Nonos Al gran sole carico d’amore, Hans Bendlers Stephen Climax an der Oper Frankfurt oder Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern in Stuttgart für frischen Wind. Mit Ruth Berghaus schmiedete er einen Ring des Nibelungen, der die Gemüter in Flammen setzte. Solche Perspektivverschiebungen setzten sich fort. Wenn der Inhalt verstörte, erzeugte die musikalisch-gesangliche Entfaltung Stürme der Begeisterung. Das Musikdrama betrachtete er stets als politische und ästhetische Angelegenheit. Wie konnte es einst gelingen, mit Opernaufführungen eine ganze Stadt in Aufruhr zu versetzen? Welchen Prinzipien folgte er bei der Entrümpelung der deutschen Singhochburgen, wie gewann er das Publikum? Die Ethik der Arbeit. Ein Gespräch mit Frank M. Raddatz.

An die Irrungen und Wirrungen des Simplicius Simplicissimus erinnert Frank M. Raddatz’ abenteuerliche Odyssee durch die Theaterlandschaften. Er begibt sich in Gedanken auf die zurückgelegten Routen. Seine Autobiographie in szenischen Anekdoten schildert Begegnungen mit William S. Burroughs, Kooperationen mit Jannis Kounellis, Theodoros Terzopulos und Dimiter Gottscheff bis hin zur Arbeit auf den griechischen Bühnen von Delphi und Epidauros — groteske Szenen im Stadttheater, die aus der Feder des Barons Münchhausen zu stammen scheinen, Räuberpistolen, in denen Günter Grass und der Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus, tragende Rollen spielen. „Genossen, jemand hat den antifaschistischen Schutzwall durchbrochen!“, unterbrach Heiner Müller 1987 die Theaterarbeit am Lohndrücker im Deutschen Theater in Ost-Berlin, als er den auf der Probebühne sitzenden Autor entdeckte. Statt Gelächter setzte bleierne Stille ein, die der DDR-Dramatiker aufhob mit den Worten: „Das ist Frank Raddatz. Ein Anarchist aus Hannover!“ Eine Theaterreise voller Staunen, Erkundungen des Heiner Müllerschen Gedankenkosmos, akrobatischen Bewerkstelligungen gefährdeter Projekte bis hin zu dem Triumph, vierTragödien des Aischylos in einer deutschen Inszenierung zur Aufführung in Epidauros zu bringen.

Der wiederentdeckte Text des verstorbenen Kunsttheoretikers Peter Wollen trägt den Titel: Brecht in Los Angeles. Es rekonstruiert Bertolt Brechts Erfahrungen als Exilant mit der New Yorker Theaterszene und der Filmfabrik Kaliforniens zu Beginn der vierziger Jahre; Wollen erinnert an Gespräche und Projekte mit Orson Welles, Joseph Losey, Charles Laughton, Christopher Isherwood, Charlie Chaplin oder Peter Lorre, er schildert die Atmosphäre Hollywoods sowie die unter den Schauspielern, Autoren, Produzenten und Regisseuren der Emigrantenszene zirkulierenden Ideen zum Verhältnis von Avantgarde und Ästhetik, Literatur und Drehbuch, Entertainment und radikaler Politik. Spencer Tracys Maxime für Schauspieler dort lautete: „Lern Deinen Text und stoß nicht gegen die Kulissen.“ Brecht machte sich keine Illusionen über dieses Hollywood des ewigen Sonnenscheins. Resümee seiner scheiternden Drehbuchversuche für die Traumfabrik: „Rezept für Erfolg im Filmschreiben: Man muß so gut schreiben, wie man kann, und das muß eben schlecht genug sein.“

FILM ODER TOD

Der legendäre Regisseur Edgar Reitz geht dem Film als Phänomen nach und erzählt, was ihn antrieb, diesem Medium ein Leben lang treu zu bleiben. Eine Krankheit verschaffte ihm die Erkenntnis, wie zerbrechlich das Leben ist und wie schnell es zerfällt. Damit war der Wunsch geboren, eine Kontinuität zu schaffen, die über das fragile Erinnern hinausgeht. Die Affinität zum Medium Film, das, anders als Literatur, eine pausenlose Gegenwart erzeugt, bereitete den Boden für die Spezifik des Reitz’schen Erzählens in epischen Formaten. Mit der großangelegten Fernsehserie Heimat, die ihm internationale Anerkennung einbrachte, sogar von Stanley Kubrick, vermochte er, autobiographische Erinnerungen mit der Geschichte seiner Heimatregion Hunsrück zu einem Monument der Region und der deutschen Geschichte zu verbinden. Über die Zukunft des Films vor dem Hintergrund der Künstlichen Intelligenz: Zeitkunst Film.

Ein Wiedersehen der Filme Andrej Tarkowskis ist ein reizvolles Rendezvous mit den eigenen Erinnerungen an sie, findet Patricia Görg. Funzelige Laternen des Gedächtnisses und der Gefühle beleuchten eine dunkle Parallelwelt namens Vergangenheit. Da diese Werke selbst Schatzkammern der Erinnerung sind, erlebt man den Effekt zweier sich gegenüberstehender Spiegel, die ihre Bilder voneinander wechselseitig endlos in die Tiefe staffeln. Unabsehbare Wiederbegegnungen mit in der Sowjetunion schwer erkämpften, tief berührenden poetischen Meisterwerken wie Andrej Rubljow, Der Spiegel, Solaris, Stalker oder Opfer: Der schwarze Hund.

Ruhm und Schande eines übermächtigen Filmstars, der nach den Sternen griff, und der in Verachtung versank, zeichnet das literarische Porträt eines Giganten: Gérard Depardieu. Es ist die Entwicklung des kometenhaften Aufstiegs eines des erfolgreichsten europäischen Schauspielers aus dem Nichts der Provinz zum weltweit vergötterten Filmstar, die Geschichte einer Selbstgefälligkeit ohnegleichen und einem Absturz in den Status eines Unberührbaren. Der Film Cyrano de Bergerac war ein Welterfolg, mit seiner genialen Verkörperung des Dichters hatte Depardieu sogar die USA begeistert. Sein begnadetes Talent ließ den Schauspieler in die verschiedensten Rollen schlüpfen, die berühmtesten Regisseure rissen sich um ihn, er konnte sich erlauben, alle Konventionen zu sprengen, genoß alle Arten von Exzeß und verirrte sich in Narzißmus und Selbstherrlichkeit. Die Anschuldigungen sexueller Übergriffe, monomanischen Benehmens am Set, Vergewaltigungsvorwürfe, die Nähe zu Despoten wie Putin oder Lukaschenka machen ihn zuletzt zum Geächteten. Licht und Schatten eines Superstars vor dem Hintergrund der Filmgeschichte Frankreichs. Ein lebenssattes Porträt von Raphaëlle Bacqué und Samuel Blumenfeld.

MEDITATIONEN

Einen Versuch über das Schweigen unternimmt Alexander G. Düttmann. „Schweigen muß man, so scheint es sein Begriff zu erfordern, einerseits von Stummheit, andererseits von bloßem Nicht-Reden unterscheiden. Wer stumm ist, kann nicht nur nicht reden, sondern auch nicht schweigen, kann nicht schweigen, weil er nicht reden kann. Wer bloß nicht redet, schweigt nicht, weil er jederzeit auch reden könnte. Daß er etwas nicht sagt, bleibt zufällig oder gleichgültig, hat mit dem, was er nicht sagt, kaum etwas zu tun. Wie aber unterscheidet sich das Schweigen von der Rede?“ Und wer ist bereit, die Zweideutigkeit des Miteinanderredens, die Unverständlichkeit des Verständlichen zu unterbrechen, um sich der Zweideutigkeit des Schweigens auszusetzen, einem Verständnis, in dem das Unverständliche seine Spur hinterlassen hat, die Stummheit? Wer kann schweigen?

BRIEFE, KOMMENTARE & KORRESPONDENZEN

In den Tagen des Leids und des Todes während der Pandemie tauchten beunruhigende Fragen auf. Wer kann geopfert, wer soll gerettet werden? Ist es erlaubt, nach Kriterien einer Auslese zu fragen? Die Autorin konfrontiert Szenen aus sehr unterschiedlichen Kulturen miteinander, von den rauesten Gegenden des alten Japan, wo die Männer und Frauen im hohen Alter zum Sterben auf Berggipfel gebracht wurden, um zu verhungern oder von Hyänen gefressen zu werden, über afrikanische Dörfer, in denen Sterbende akkurat gekleidet mit den Rücken an einen großen Mangobaum gelehnt, von Dorfbewohnern begleitet, entspannt sterben, hin zu uralten bäuerlichen Gemeinschaften, wo der Übergang zum Tod mit fröhlichen Ritualen begangen wird. Dacia Maraini über den Umgang mit Alten und Todgeweihten: Orin und Alkestis.

Der italienische Romancier Fabio Stassi erinnert an den Autor Italo Calvino und dessen berühmtes letztes Buch „Six Memos for the Next Millennium aus dem Jahr 1988 [dt. Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend], das schnell als eines der bedeutendsten Ereignisse der Literaturtheorie der vergangenen Jahrzehnte eingeschätzt wurde. Er sieht sich als Melancholiker und saturnischen Einzelgänger, der davon träumt, mit der Gewandtheit Merkurs auf Flügelsandalen unterwegs zu sein ... Zu seinen sechs literarischen Leitideen erwählt er Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielschichtigkeit und „Consistency“ - Kohärenz“. Es war das Testament eines Literaten, der alle Erfahrungen, schriftstellerische wie verlegerische, von der Nachkriegszeit bis zur Schwelle des neuen Jahrtausends, durchquert hatte und dem es gelungen war, seine Gedanken und Erkenntnisse über die Literatur sämtlicher Epochen, die während eines langen Lebens gereift waren, auf weniger als hundert Seiten zu kondensieren. Italo Calvinos letzte Kohärenz.

Das Gespräch zwischen dem im deutschen Exil lebenden russischen Künstler und Archivar des Moskauer Konzeptualismus Vadim Zakharov und der Slawistin Anja Schloßberger vergleicht Untergrundpraktiken der Moskauer Kunstszene „im Käfig“ der einstigen Sowjetunion und den Kunstbetrieb im Westen. Für russische Künstler müsse angesichts der Kriegsverbrechen Rußlands jetzt eine Zeit des Schweigens anbrechen: „Wenn ich von künstlerischem Schweigen spreche, so deshalb, weil die Sprache zerstört ist.“ „Es braucht Zeit, bevor wir auf Russisch imstande sein werden, die grauenhaften Verbrechen in Butscha, Irpin, Mariupol und anderen ukrainischen Städten zu beschreiben. Wir können dies momentan nicht in künstlerischer Form tun, es fehlt an Distanz. Ohne Pause, ohne Stille werden wir nicht imstande sein, jene neuen Regungen in der Tiefe der russischen Kultur zu vernehmen, die am Anfang einer neuen Sprache stehen können. Eigentlich sind wir noch gar nicht beim Schweigen, der Krieg geht immer weiter. Sprachlich sind wir jetzt im Stadium des Schreiens, des Reißens der Stimmbänder. Erst werden wir alle heiser, dann werden wir leise sprechen, mit Mühe, unartikuliert brabbeln, werden versuchen, das, was geschehen ist, irgendwie zu erklären, dann erst wird das Schweigen anbrechen.“ Vom Reißen der Stimmbänder

Herbert Maurer berichtet aus Wien über die Totalrenovierung des Parlaments sowie über Kult und Kitsch um Gustav Klimt, Egon Schiele & Co., deren malerische und graphische Werke zusammen mit den Bildern ihrer ornamentverliebten Kumpane und „Schwulstmeißler“ von den Türschnallen der Metro-Stationen über Mokkatassen und Kacheln der Herrentoiletten allgegenwärtig sind. Über Staatskünstler, das Hohe Haus am Ring und das Wiener Jugendstil-Business. Schielt Klimt?

Mallorca ist schon lange eine „Sunny Isle for Shady People“, meint Ulysses Belz mit Harry Graf Kessler und erinnert an die anfängliche Zuneigung Thomas Bernhards zu Mallorca als einem idealen Arbeitsort und dessen desillusionierenden Mallorca-Roman Beton, der von einem anfänglichen Glücksverssprechen zu einer brutalen Kollision mit der Inselwirklichkeit führt. Heute ist Mallorca der Wühltisch Europas für Lebensentwürfe, meint unser Korrespondent, und unternimmt einen Vogelflug über den standardisierten Luxus des Tourismus, den Bauwahn, die Grundstücksspekulation und die der Selbstvergessenheit verfallenen Insel: Kapernblüten.

KUNST

„Ich versuche, die äußeren Ränder der Figuren, die ich zeichne, zu kontrollieren, während ich das Fließen, die Mischung und Sättigung der farbigen Wässer, die ich verwende, nicht kontrollieren kann. Die Art und Weise, wie diese wässrigen Farben interagieren ähnelt dem belebenden Charakter ihrer eigenen inneren Realität. Die Arbeiten erstreben eine psychoemotionale Balance zwischen dem Chaos unseres Innenlebens und der Schnittstelle unserer Haut, wo wir sichtbar werden.“ Mit welcher Virtuosität Eric Fischl seine Vision verfolgt, lassen die vibrierenden Gestalten erahnen, die den schweren Kräften die Freiheit des Willens, der Form, der Schönheit entgegensetzen. Gestalten, fast entmaterialisiert: Figures.

Wir wünschen hoffnungsvolle und angenehme Herbstmonate bei inspirierender und spannender Lektüre! Bleiben Sie uns gewogen!

Mit den besten Grüßen,

Lettre International

Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024