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Cover Lettre International 94, Robert Longo
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Inhaltsverzeichnis

LI 94, Herbst 2011

Aufenthalt im Spiegel

Historische und subjektive Melancholie oder die Freude, traurig zu sein

(…) Vielleicht ist bei den Konstanten in den Reflexionen über die Melancholie am offensichtlichsten die Überzeugung fast aller Autoren, daß die Melancholie mit einem gestörten Verhältnis zur Zeit einhergeht. Ein Typ von Melancholikern ist ganz der Zukunft zugewandt, fähig, vorauszuschauen, manchmal sogar begabt (verdammt?) mit prophetischen Fähigkeiten, während der andere in die Vergangenheit eingetaucht ist, die zu unterscheiden er sich weigert. Ein Melancholiker, der im Sommer Venedig besucht, kann das nicht wirklich genießen, weil in seinem Geist die ganze Zeit jener Zustand gegenwärtig ist, wie er im November in der Stadt herrscht, da die Feuchte in Mark und Bein, in die Tiefe der Mauern, in die Knochen ihrer Bewohner dringt; er kann auch den Anblick eines schönen Mädchens nicht genießen, außer vielleicht den Anblick einer, die eine schöne Greisin werden wird (weil er die künftige Greisin etwas besser sieht als das Mädchen, das vor ihm steht); er könnte vielleicht die Schrecken des Winters genießen, wenn sich ein anständiger Melancholiker über das Wogen des Frühlings freuen könnte, das er in der Winterlandschaft deutlich ahnt … Ihm steht jener Typ von Melancholiker gegenüber, der ganz der Vergangenheit zugewandt ist, der die Probleme des Sokrates als wirklicher und konkreter empfindet als die seines Nachbarn; der Melancholiker begreift schon im zarten Alter von fünfzig Jahren, was ihn mit 15 gequält hat; er bemüht sich, die ganze Vergangenheit, seine und die anderer, die erlebte und die imaginierte, in ihrer Gesamtheit und in der „synkretistischen Ganzheit“ des unmittelbaren Lebens zu bewahren. Er spürt ganz konkret und wirklich, daß die Vergangenheit die Bedingung und die Grundlage der Gegenwart ist, daß sein Haus ebenso von den toten Ahnen wie von ihm bewohnt wird; ihm gehen die Sophisten, die Aristophanes und Platon genervt haben, viel mehr auf die Nerven als die gegenwärtigen Sophisten, welche die öffentlichen Medien seiner Stadt verschmutzen. Dabei ist wichtig zu betonen, daß der Melancholiker dieses Typs kein Konservativer im üblichen Sinne dieses Wortes ist. Ein Konservativer freut sich nämlich über jede Veränderung, die er verhindert hat, und genießt alles, was er bewahrt hat, während sich der Melancholiker nicht freut – ihm ist die Vergangenheit zwar näher und wirklicher als die Gegenwart, aber auch zu ihr hat er keine unmittelbare Beziehung, so daß er sich auch nicht über sie freuen kann.

Kurzum, der Melancholiker lebt nicht. Das Wissen hat ihm das Leben genommen, das Verständnis hat sein Sinneserleben und sogar die Fähigkeit dazu aufgefressen, seine Gefühle kommen aus ihm selbst und können keine Verbindung zwischen ihm und der ihn umgebenden Welt herstellen, sie trennen ihn im Gegenteil nur noch mehr von der Welt. Aristoteles glaubte, es gebe keine Gegenwart, weil der Augenblick, der aus der Zukunft auf dem Weg in die Vergangenheit zu mir gekommen ist, Vergangenheit geworden ist, bevor ich es geschafft habe, das „j“ von „jetzt“ zu denken. Daher existieren, logisch betrachtet, nur die Zukunft und die Vergangenheit; die Gegenwart gibt es nicht, aber wir können sie denken, weil sie logisch möglich ist. Doch das Leben spielt sich gerade in dieser Zeiteinheit ab, die, logisch gesehen, nicht existiert, nämlich in der Gegenwart. Das unentwirrbare Geflecht meiner Beziehungen zur Welt um mich herum, die unzähligen emotionalen, sensuellen und rationalen Interaktionen meines Wesens mit der äußeren Wirklichkeit, die materiellen, emotionalen, intellektuellen, imaginativen und alle anderen Inhalte, die mein Wesen mit der Welt austauscht – all das erzeugt und ist Gegenwart. Natürlich nur in der Unmittelbarkeit, die Kierkegaard so schmerzlich vermißte, wird sie erzeugt, ist sie möglich – es gibt keinen Kontakt und keinen Austausch zwischen der Innen- und der Außenwelt eines Wesens, das in Reflexion versunken ist; dieses Wesen hat kein unmittelbares Erleben der Welt und auch keine Gegenwart, in der sich sein Leben abspielt.

(…)

Unterscheidet sich – und wenn ja, wie – die Melancholie eines Wirtschaftsemigranten Mitte der Achtziger von der eines Kriegsemigranten zu Beginn der Neunziger? Unterscheidet sich das Heimweh eines Vertriebenen vom Heimweh eines „normalen Flüchtlings“? Wie seufzt ein Mensch nach seinem Haus, den die Nachbarn mit Waffengewalt daraus vertrieben haben, und wie ein Mensch, der geflüchtet ist, um sich vor der Mobilisierung zu retten? Ist ein Mensch, der vertrieben worden ist und sich als Opfer fühlt, auf die gleiche Weise Melancholiker wie ein Mensch, der in einem schweren Augenblick freiwillig weggegangen ist und sich vielleicht als Verräter fühlt? Und so weiter und so weiter, Fragen über mögliche Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen von Exjugoslawen könnte man endlos aneinanderreihen. (Noch eine Anmerkung in der Bemühung um Verständnis: Wenn ich von Exjugoslawen, Jugonostalgie und ähnlichen Dingen spreche, verhalte ich mich weder zu den alten noch zu den neuen ideologischen Modellen, ich spreche ausschließlich vom pathetischen Wissen, das die Menschen in sich tragen.)

Zu jenen „gezwungenen“ oder „historischen Melancholikern“, die keine Exjugoslawen sind, aber die Mehrheit in unserer heutigen Welt bilden, liefert Richard Sennett Erklärungen, wenn er vom „flexiblen Menschen“ spricht. Dies ist der typische Bewohner unserer Zeit, ein Mensch, der aufgrund seiner unermeßlichen Anpassungsfähigkeit „flexibel“ ist, einer der modernen Nomaden, die dorthin gehen, wo sie gerade gebraucht werden oder wo eine Arbeit angeboten wird, so daß sie alle paar Jahre Städte, Firmen und Arbeitsplätze wechseln, womöglich auch ihre Ehepartner oder Familien … Kann so ein Mensch ein emotionales Gedächtnis haben? Kann er so weit kommen, daß er beginnt, die Welt und sich pathetisch zu erkennen? Emotionen sind langsam, langsamer als der Verstand, sie können nicht in den paar Jahren, in denen der „flexible Mensch“ von seiner Firma in einer Stadt gebraucht wird, sich entwickeln und bewußt werden. Wonach kann dieser sich sehnen? Woran sich mit Wehmut erinnern? Wie ist man ein Mensch, wenn man kein emotionales Gedächtnis hat und wenn man sich nach nichts sehnt? Was soll ein emotionaler Zwerg mit sich anfangen, selbst wenn er dabei ein intellektueller Gigant ist? Im besten Fall ist er ein Ungeheuer, und Ungeheuer sind, fürchte ich, zur Melancholie verurteilt.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024