LI 88, Frühjahr 2010
Sexualökonomie in Iran
Über Bevölkerungspolitik, weibliche Emanzipation und HomosexualitätElementardaten
Textauszug
Seit Mitte der neunziger Jahre wurde auf zahlreichen, zuweilen  ungeahnten Feldern für eine tolerantere iranische Gesellschaft  gefochten. Journalisten, Juristen, Minister, Ärzte und  Krankenschwestern, Modedesigner, Schauspieler und Regisseure, Studenten,  Schriftsteller und Hausfrauen entwickelten sich zu Aktivisten der  Reformbewegung. Die Reformer entstammten unterschiedlichen sozialen und  religiösen Richtungen, darunter säkulare wie moderate Muslime. Manche  waren linksgerichtete Islamisten, die an der Revolution teilgenommen, im  Iran-Irak-Krieg gekämpft oder gefallene Angehörige hatten. Viele  engagierten sich in Kampagnen zur Alphabetisierung und zur  Gesundheitsvorsorge. Diese ursprünglichen Befürworter eines  theokratischen Staates, inklusive Frauen, die unter dem Verlust ihrer  gefallenen Liebsten zu leiden hatten, wurden angesichts des korrupten  Staates zunehmend unzufriedener und fühlten sich von ihm im Stich  gelassen. Die meisten Reformer hatten eine dramatische ideologische  Transformation durchlebt, die der Zusammenbruch der osteuropäischen  Staaten und des Sowjetsystems verstärkt hatte. Islamistische Veteranen  und oppositionelle Aktivisten einigten sich vorübergehend auf einen  zerbrechlichen Burgfrieden, um sich für ein gemeinsames Ziel zu  verbünden. Diese Organisationen wurden durch die wachsende Zahl von  Jugendlichen verstärkt, die mit Satellitenfernsehen und Internet  aufgewachsen und über die Exzesse des theokratischen Staates und seiner  Moralpolizei zutiefst verärgert waren. Die Reformer argumentierten, daß  die Opposition gegen den Schah und die westliche Dominanz nur einen  Aspekt der revolutionären Agenda darstelle. Wichtiger seien eine solide  Demokratie und eine neue, mit den Erfordernissen des modernen Lebens  vereinbare Interpretation des Islam.
Die Wahl Mohammad Chatamis  zum Präsidenten im Mai 1997 stärkte die Befürworter der Frauenrechte,  welche seine Kandidatur unterstützt hatten. Im Juni 2001 wurde er, trotz  geringer Aussichten, sein Programm angesichts un-beugsamer Hardliner  durchzusetzen, mit knapp 76 Prozent der Stimmen wiedergewählt. 1999  kandidierten mehr als 7.000 Frauen für die Kommunal- und Provinzräte. In  zwanzig Städten errangen sie den Spitzenplatz und in 58 Städten den  zweiten. Die Wahlen vom Februar 2000 brachten eine neue Generation von  Abgeordneten in das Sechste Islamische Parlament (2000 bis 2004), in dem  die Reformer über eine deutliche Mehrheit verfügten. Viele Abgeordnete  glaubten, sie könnten größere soziale Freiheiten wiederherstellen, indem  sie das islamistische Regime mit Hilfe legislativer, parlamentarischer  Mittel reformierten. In den Jahren zwischen 2000 und 2004 versuchten die  Reformer, die das Präsidentenamt, das Parlament und die Provinzräte  dominierten, das System zu liberalisieren. Weibliche Abgeordnete  organisierten einen Ausschuß und legten eine Reihe von Gesetzen zu  Frauen- und Mädchenrechten vor, von denen sie einige durchsetzen  konnten. Eines davon reduzierte die Vorschriften, was das Tragen des  Hidschabs von Mädchen und Gymnasiastinnen angeht, indem es farbigere  Schuluniformen und Kopftücher erlaubte. Das Parlament erhöhte das  gesetzliche Mindestalter zur Heirat für Mädchen von neun auf 15 Jahre,  dem sich jedoch der allmächtige Wächterrat widersetzte, so daß  es auf 13 Jahre festgelegt wurde. Alleinstehende Frauen erhielten das  Recht, mit staatlichen Stipendien im Ausland zu studieren. In den frühen  neunziger Jahren hatten die Frauen das eingeschränkte Recht errungen,  im Falle von Drogenabhängigkeit, psychischen Störungen, ansteckender  Krankheit oder Vernachlässigung von Familienpflichten seitens des Mannes  die Scheidung einzureichen. Ehefrauen hatten überdies ein  eingeschränktes Sorgerecht für Kinder erhalten. Die Reformer versuchten,  diese Rechte auszubauen.
Präsident Chatami unterstützte diese  Bestrebungen, inklusive derer, die Frauen gleiche Erbrechte und  weitreichendere Scheidungsrechte einräumen sollten. Die Vorlage zum  Erbrecht und andere Gesetzesvorlagen wurden jedoch vom Obersten  Rechtsgelehrten, dem Wächterrat und dem Expertenrat  entweder zurückgewiesen oder erheblich revidiert. Die Instanz des Expertenrats  vermittelt zwischen Parlament und Wächterrat, wobei er  gewöhnlich für letzteren Partei ergreift. Ambitioniertere Projekte wie  die Annahme der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von  Diskriminierung der Frauen (Convention on the Elimination of All Forms  of Discrimination against Women, CEDAW), welche die  Regierung Chatamis unterstützt hatte, wurden – mit einigen  Einschränkungen – von der Parlamentsmehrheit angenommen.
Gegen  die CEDAW erhob sich heftiger Widerstand in [der religiösen Stadt] Qom,  wo islamistische Männer und Frauen gegen das neue Gesetz demonstrierten.  Konservative Geistliche erklärten, die Annahme der CEDAW käme einer „Kriegserklärung  an den Islam“ gleich. Ein anderer Kritikpunkt lautete, daß die  CEDAW einen perversen „westlichen Sexualethos sowie Prostitution“  repräsentiere, die zur Einrichtung gemischtgeschlechtlicher Badehäuser  führen würden. Letztendlich lehnte der Wächterrat den  Gesetzentwurf mit der Begründung ab, daß er im Widerspruch zu mehreren  Prinzipien der Verfassung und des Islam stünde, einschließlich der Erb-  und Scheidungsgesetze, des Hidschabs und der Polygamie.
Trotz  vehementer öffentlicher Unterstützung gelang es in der Chatamiära nicht,  den islamistischen Staat zu reformieren, obwohl sie größere  Möglichkeiten zur kulturellen Entfaltung und politischen Kritik geboten  hatte. Die Reformanhänger wurden darüber hinaus bei jedem Vorhaben mit  Repressionen konfrontiert, da Polizei und Justizsystem wie auch  militärische und außenpolitische Belange der Kontrolle des Wächterrats  und des Obersten Rechtsgelehrten unterstellt blieben. Das führte dazu,  daß zwischen 1997 und 2004 mehr als hundert Zeitungen verboten wurden  und der Staat Oppositionelle, Journalisten und sogar einige  Reformpolitiker verfolgte. Viele wurden verhaftet, ermordet oder ins  Exil gezwungen, darunter eine ganze Generation studentischer Aktivisten,  die 1999 aufsehenerregende Demonstrationen an iranischen Universitäten  veranstaltet hatten.
Nachdem viele desillusionierte  Reformanhänger den Wahlen ferngeblieben waren, übernahmen die  Konservativen im Siebten Islamischen Parlament die Kontrolle (2004 bis  2008). Sie stoppten die Debatten über die CEDAW und andere progressive  Genderreformen. Unter ihnen befanden sich zahlreiche basidsch  und Revolutionsgardisten, deren Aufstieg in führende  Entscheidungsgremien eine neue Phase der iranischen Politik einläutete.  Weibliche Abgeordnete, die den basidsch angegliedert waren und  in enger Beziehung zu ländlichen Gebieten standen, initiierten einige  wenige progressive Maßnahmen wie die Wiedereinführung des  Schwangerschaftsabbruchs bei medizinischer Indikation oder die Ernennung  von Richterinnen mit beratender Funktion. Allerdings unterstützten sie  mehrheitlich das neue konser-vative Programm.
Die Reformer wurden  weiter geschwächt, als der amerikanische Präsident George W. Bush 2002  Iran zum Element seiner „Achse des Bösen“ erklärte und einen  Einmarsch der USA nach Iran in Erwägung zog. Die Ohnmacht der Reformer  angesichts dieser ausländischen wie inländischen Herausforderungen  führte zu einer umfassenden Desillusionierung der Öffentlichkeit. Nach  einer Dekade der Vorherrschaft der Reformer in Kommunalräten, im  Parlament und im Präsidentenamt brachten die Präsidentschaftswahlen von  2005 den konservativen Populisten Mahmud Ahmadinedschad an die Macht,  einen ehemaligen Revolutionsgardisten. Präsidentenamt, Parlament und  Kommunalräte lagen nun in den Händen einer neuen Generation von  Konservativen, die mit den Revolutionsgarden eng  zusammenarbeiteten. Jahr um Jahr näherte sich Iran mehr einem  Militärstaat an.
Die Entscheidung von 20 Millionen  desillusionierten reformorientierten Wählern, die Wahlen zu  boykottieren; eine partielle Wahlfälschung, die die Behörde des Obersten  Rechtsgelehrten ausgeheckt hatte; und der Eifer, mit dem die basidsch  sich an der Wahl beteiligten, trugen dazu bei, daß Ahmadinedschad an  die Macht kam. Man schätzt, daß es 2005 etwa 8 Millionen basidsch „mit  Ausweis“ gab: 3 Millionen aktive Mitglieder (in Militärcamps  ausgebildet und zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt) und 5  Millionen nicht aktive Mitglieder (Personen, die Geldzuwendungen  erhielten und zu Wahlen mobilisiert werden konnten). Jene, die für  Ahmadinedschad votierten, taten es aus Loyalität zum basidsch  und zur Unterstützung seines Wirtschaftsprogramms. Sie waren beeindruckt  von seiner Frömmigkeit und seinen Versprechungen sozialer Gerechtigkeit  sowie von seinem Widerstand gegen die marktorientierten  Liberalisierungspläne seines Widersachers Rafsandschani, aufgrund derer  zahlreiche Subventionen gestrichen worden wären.
Ahmadinedschads  Wahl war zugleich Ausdruck einer Gegenreaktion auf die stattfindende  sexuelle Revolution. Ich war kurz vor den Wahlen in Teheran und  überrascht vom Ausmaß negativer Kommentare zu dem angeblich skandalösen  Verhalten von Frauen, die auf Straßen und öffentlichen Versammlungen zu  hören waren. Viele Männer, auch junge Arbeiter, die der Regierung  feindselig gegenüberstanden, waren erzürnt über die vorgebliche sexuelle  Promiskuität junger Frauen und den Anblick von Mädchen und Jungen, die  Hand in Hand durch die Straßen gingen. In diesen Gesprächen war die  Kritik der Wirtschaftspolitik zumeist mit Geschichten von jungen Frauen  verbunden, die ihre Körper an arabische Scheichs (statt an iranische  Klienten) am Persischen Golf verkauften, um Geld für ihre Aussteuer und  den Unterhalt ihrer Familien anzusparen. Wie der Journalist Christopher  de Bellaigue berichtet, waren damals viele Anhänger Ahmadinedschads  besorgt über den „dramatischen Anstieg der Prostitution, der  ehelichen Untreue und der Drogenabhängigkeit“, die sie der Sozial-  und Kulturpolitik der Reformanhänger zuschrieben. Sie verwiesen darauf,  daß Ahmadinedschad als Teheraner Bürgermeister günstige Kredite für  frisch verheiratete Paare bereitgestellt hatte, um die Institution der  Ehe zu fördern. Als Präsidentschaftskandidat versprach er nicht nur, die  schwindelerregende Arbeitslosenrate zu senken, sondern auch, jungen  Paaren mehr finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.
Ahmadinedschads  Anhänger nutzten diese Gefühle aus, indem sie vor den Wahlen einen  Dokumentarfilm von Massoud Dehnamaki (einem ehemaligen basidsch)  mit dem Titel Prostitution und Armut (2002) verbreiteten. Der  Film, ein brillantes Propagandastück, zielte auf Ahmadinedschads  bedürftige städtische und ländliche Unterstützer ab. Er zeigte  Interviews mit mittellosen Städterinnen, die sich, zumeist befristet,  auf den Sexhandel in den [arabischen] Staaten des Persischen Golfs  eingelassen hatten. Manche von ihnen sparten, um verzweifelten  Familienmitgliedern zu helfen oder um sich mit einer Aussteuer (dschahisiyeh)  für eine Heirat auszustatten. Diese geschickte Manipulation sozialer  und kultureller Nöte, die sich Vorurteile der Iraner gegen die Araber  zunutze machte, führte zur Niederlage der Reformbewegung.
Zwischen  2005 und 2008 heizte Ahmadinedschad die nukleare Konfrontation mit dem  Westen an und ging hart gegen die Reformer, Anwälte für Frauenrechte,  Gewerkschaftsaktivisten und andere progressive Gruppen vor. Dennoch  wurde offensichtlich, daß keinerlei Maß moralischer Ermahnung,  Provokation ausländischer Mächte oder fiskalischer Reformen die  iranische Gesellschaft in die Frühphase der Revolution zurückversetzen  konnte, als junge Leute den moralischen und geschlechtsspezifischen  Vorschriften des islamistischen Staates folgten, viele davon freiwillig.
(...)
 
   
   
   
  