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Lettre International 150
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LI 150, Herbst 2025

Zwölf Zettel

(…)

Vom vielen Rübergucken wird man krank, hat die Mutter meines Schulfreundes Klaus gesagt. Bei Klaus bin ich oft zu Besuch, wir klettern aufs Dach, auf den Austritt für den Schornsteinfeger. Es sind nur dreißig Meter. Und sehen rüber. Wenn sie lachen oder streiten, können wir die Westler auf den Balkonen sogar hören. Die reale Nähe und reale Ferne lagen übereinander und ließen die Bilder schwimmen, steigerten meine Sinneseindrücke ins Sensationelle. Von Klaus’ Dachboden starrte ich rüber, ungläubig. Wenn es Palmen und Zypressen gewesen wären, hätte ich es wohl geglaubt. Aber es waren dieselben Kiefern, die auch auf unserer Seite standen. Die Kiefernwipfel auf der anderen Seite schlafen wie die unseren, oder sie beugen sich und rauschen mit ihrem Nadelorchester. Es rüttelt sich der Blütenbaum, er säuselt wie im Traum. Schlafe, schlafe, schlaf du, mein Kind, schlaf ein. Wenn ich bei Klaus lange rübergeguckt hab, gehe ich im Halbschlaf nach Hause und wacher als sonst. 

Eines Sonntagmorgens war die Grenze plötzlich geschlossen und blieb es bis zum Abend. Ich war an diesem Sonntag mehrmals mit dem Rad zum Übergang gefahren, irgendwann mußten sie ja wieder aufmachen. In den nächsten Tagen dann seltener. Dann gar nicht mehr. Der geschlossene Übergang strahlte zunehmend etwas ab, das schwer erträglich und faszinierend war. Ein großes NEIN zu etwas, das ich für lebenswichtig gehalten hatte. Ich sah einen Staudamm, hinter dem etwas anschwoll, ein großes Rüberwollen, das irgendwann überschwappen würde. Ich sah eine Katastrophe voraus. Daß sie sich eher im Innern abspielen würde, konnte ich nicht wissen. 

Was für ein Widerhall, wo man am Grenzschild stehenbleiben muß, fünfzig Meter vor dem Hochstand auf der anderen Seite. Die Mutter ruft Texte hinüber wie von Glückwunschpostkarten. Alles Gute. Die Muhme auf dem Podest hinterm Schutzwall wirft dieselben Texte zurück. Ihre dünne Stimme ist fremd, nichts von dem, was man von ihr in Erinnerung hat. Nur ein dürftiges Echo.

Eines Tages kam das erste Päckchen. Als ich den Boden des Kartons entdeckte, war das Erwartete nicht dabei gewesen. Irgend etwas stimmte nicht mit diesen Sachen, sie logen, etwas von der Muhme zu sein, und waren doch nur Kekse und Puddings. Manchmal sah ich sie vor mir, diese andere Großmama: Sie lief in die Ladenstraße, um für mich einzukaufen, sie packte eifrig, packte um, wickelte ein und schnürte zu. Davon erzählten diese Sendungen. Unsere Großmama hatte nie Pakete gepackt und war nur ungern einkaufen gewesen. 

Etwas vom allgemeinen Erlahmen ist draußen hörbar. Es ist zu hören, wenn die Grenzer schlaftrunken zur Übung trampeln. Wenn sich die Frauen ihre Geschichten zuraunen in der Schlange: Hatten die immer so tiefe Stimmen? Es ist in den zähen Kaskaden aus Honig und Teer im sowjetischen Violinkonzert, das der Vater zu üben hat. Es ist in der Luft als ein dumpfer Widerhall von der Betonumfriedung her. Jedes Geräusch wird von dort zurückgeworfen. Was hier geschieht, bleibt hier gefangen und kann sich nicht ausdehnen dahin, wo es vergehen könnte, um etwas anderem Platz zu machen. Man bleibt umgeben von den Geräuschen aller Tage, bis das Rauschen in den Ohren dröhnt, das Rauschen des Stillstands. Das Draußen ist zu einem Drinnen geworden. Mit dem Antennenfaden kann man es aussieben und fischt Westsender auf.

(…)

Eine Art von Mann?

Am unerträglichsten war mir die Demütigung, die täglich ins Land sickerte. Die Grenze kränkte unsere männliche Eitelkeit, die uns befahl, sie zu penetrieren. Und jetzt frage ich mich, ob es der Welt nicht doch eher von Vorteil war, daß ich dort nichts von alledem werden konnte oder wollte, was Heerscharen meiner Brüder im Westen geworden sind: Vertreter, Banker, Manager, Juristen, Journalisten, Unternehmer, Politiker. Postheroisch, die Tage voller Kleinkram, lebten wir Männer da in einem schäbigen Schlaraffenland, wo es keine Mühe brauchte, um satt zu werden. Auch wenn statt Spanferkeln Gummiadler durch die Lüfte flogen.

Stand da mit der Betonwand ein Menetekel hinter unseren Gärten? Waren wir gewogen und zu leicht befunden? Wer waren denn wir? Männer haben die Wand gebaut, vorwiegend Männer haben versucht, sie zu überwinden, und wurden von Männern daran gehindert. Die Männer, die sie zu bewachen hatten, zogen an unserem Haus vorüber. In Uniform, im Gleichschritt, aber sie wirkten nicht mehr ganz so schicksalsschwer, so bitterernst wie ihre Väter und Großväter in der Wehrmacht. „Hätte nie gedacht, daß ich über eine Marschkolonne auch lächeln kann“, sagte meine Mutter. „Das sind doch Schlappschwänze“, sagte mein Vater. Ich verstand so ungefähr, was sie meinten, und fragte mich: Was für eine Art von Mann soll aus mir werden? Kann es auch entlastend sein, wenn man zu leicht befunden wird? 

Bin ihr nie zu nahe getreten, der deutschen Spalte. Der rostigen Alten mit nächtlichem Glitter aus scharfen Minen und Neonpeitschen, mit den scharfen Hunden, scharfer Munition und Feldstechern so scharf. Mit scharfkantigem Splitt, der glattgeharkt den Mond angrinst. Lud meine Vergeblichkeit noch immer auf an ihrer gespreizten Armut, anstatt endlich von ihr abzulassen, als ich sie dann nach der Ausreise im Transit gefahrlos queren konnte. Überfahren. Doch wenn ich am Rastplatz heimlich das Gras streichelte, wenn ich meinen nackten Fuß ins Niemandsland setzte, das mußte sie merken, davon sollte sie ja erwachen, irgendwann. 

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 151 erscheint Mitte Dezember 2025.