LI 41, Sommer 1998
Das neue Weltsystem
Arbeiter und Aktionäre, Verantwortung und Shareholder-ValueElementardaten
Genre: Gespräch / Interview
Übersetzung: Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Textauszug
 (...) Welchen Platz hat Ihrer Meinung nach der Technologiewandel bei  diesen spektakulären Entwicklungsprozessen? Wir haben es mit drei großen Wandlungsfaktoren zu tun, zwei  makroökonomischen und einem mikroökonomischen. Der mikroökonomische  Faktor besteht darin, daß sich das Unternehmen verändert hat, wie wir  bereits gesehen haben. Der erste makroökonomische Faktor ist das  Auftreten ` nennen wir es so ` Chinas, Indiens und Lateinamerikas, der  neuen bedeutenden Akteure des Wachstums der Weltwirtschaft, die  erreichen, daß wir uns zum ersten Mal in einer wirklichen Weltwirtschaft  befinden. Der zweite makroökonomische Faktor ist der am stärksten wirkende, es  geht um die Revolution der Technologien, vor allem der  Informationstechnologie. Er verändert überall alles, oder es ist ihm  wenigstens möglich geworden, überall alles zu verändern. Er führt zu  neuen unglaublichen Unterschieden zwischen den Menschen auf der Welt. Er  spielt die Rolle eines Multiplikators bei der Erweiterung und  Deregulierung der Märkte. Die gesamte Marktwirtschaft ist ihrem Wesen  nach diskriminierend: Sie wirkt nicht ausgleichend, sie trennt zwischen  Gewinnern und Verlierern. Doch sie wirkt noch weitaus stärker  diskriminierend, wenn sie weltweit angewandt wird und Ihnen ermöglicht,  Ihre billigsten Lieferanten und Ihre günstigsten Kunden dank der  Technologie in Realzeit von einem Ende der Welt zum anderen zu suchen.  Die neuen Techniken führen einen zusätzlichen Auslesefaktor ein. Sie  wirken weitaus stärker diskriminierend als früher Eisenbahn oder Auto.  Je nachdem, ob Sie die Fähigkeit besitzen oder nicht, an deren  Entwicklung teilzunehmen, sie zu benutzen und deren Benutzung zu  optimieren, gehören Sie zu einer Seite oder zur anderen, und die  Abstände nehmen sehr schnell zu. In diesem neuen technischen Universum  stellt die Auslese unter den Menschen eine Radikalisierung dar, die an  die Auslese der Pferderasse denken läßt. Nur junge Vollblutpferde haben  Zutritt zum Rennplatz. Ihr Sieg macht aus ihnen goldbedeckte Götter. Das  Volk bejubelt sie, und zahlreiche Internauten bemühen sich zeitlebens,  ihnen gleichzukommen. Das Web ist ein neues Colosseum. Die Auslese erfolgt auf drei Ebenen: schaffen, anwenden, übernehmen.  Zunächst einmal gibt es den Unterschied zwischen schöpferischen und  unschöpferischen Ländern. So etwas hat man im Zeitalter der  industriellen Revolution erlebt: Die Tatsache, sagen wir, ein  Lokomotivenfabrikant zu sein, bedeutet einen entscheidenden Vorteil. Sie  stellen sich nun ebenso und, wie ich glaube, noch unwiderruflicher auf  die Seite der Zukunft oder der Vergangenheit, je nachdem, ob Sie  Produzent auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechniken  sind oder nicht. Europas Schicksal ist nicht entschieden, jedoch trifft  es zu, daß wir seit Anfang der neunziger Jahre eher an Boden verloren  haben. Zweite Ebene: In welchem Maß ist man wettbewerbsfähig oder nicht, um  überall dort, wo die neuen Techniken rentabel sind, das Maximum aus  ihnen herauszuholen? Die Verhaltensweisen sind in den einzelnen Ländern  sehr unterschiedlich. Der Punkt ist deshalb noch wichtiger, weil diese  vielfältigen, zahllosen Techniken durch wechselseitige Befruchtung  funktionieren. Sie wirken gegenseitig als Neuerungs- und Wertquelle. Je  mehr man sie kombinieren kann, desto mehr Werte kann man schaffen. Alan  Greenspan, 'Mister Dollar', der Präsident des amerikanischen Federal  Reserve Board, wies kürzlich darauf hin, um seine Politik zu  rechtfertigen: Bei der Kombination neuer Technologien gibt es gewaltige  und unerwartete Produktivitätssteigerungen und mehrdimensionale  wechselseitige Befruchtungen. Dies gilt weitaus mehr für die  amerikanische Wirtschaft als für die europäische Wirtschaft. Dritte Ebene: übernehmen. Wie hoch ist die Zahl der Internauten im  Verhältnis zur Gesamtbevölkerung? Das erste Land sind hierbei wieder die  Vereinigten Staaten, und das zweite Land befindet sich in Skandinavien:  Finnland. Wir kommen sehr viel weiter danach. Doch es gibt unerwartete  Erfolge. Nehmen Sie den Fall Indiens. Anläßlich des fünfzigsten  Unabhängigkeitstages Indiens haben wir erfahren, daß sich dieses Land  gerade zu einem der ersten Softwareproduzenten der Welt entwickelt. Eine  Weltgegend äußersten Elends, doch auch einer uralten Kultur. Eine  Weltgegend, in der man die Null erfunden hat, zeigt sich zu einem  technologischen Sprung fähig, der sie in die Vorhut der auf der binären  Darstellung beruhenden Technologien versetzt. Null gegen eins. Der Fall  Indiens liefert eine Zusammenschau unseres neuen braudelianischen  Weltsystems. Indien tritt in die Weltwirtschaft ein, und das ganz anders  als mit seinen Baumwollstoffen oder seinem Tee. Im Inneren befindet es  sich in einer äußerst widersprüchlichen Situation. Es erscheint uns  schließlich als ein Land mit sozialistischer und dirigistischer  Tradition, das sich gerade zu einem liberalen Land entwickelt. (...)
 
   
   
   
  