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Inhaltsverzeichnis

LI 124, Frühjahr 2019

Polizeistaat der Zukunft

Ein totalitäres Kontrollsystem überwacht die Uiguren von Xinjiang

(…)

   „Xinjiang“ bedeutet auf chinesisch „neue Grenze“ oder „neues Dominion“. Es ist ein Gebiet, das erstmals im 18. Jahrhundert mit China gekämpft hat, seit alters siedeln dort die Uiguren – eine türkische Ethnie, deren Sprache und Kleidung den Völkern Zentralasiens eindeutig nähersteht als denen Chinas. Die entlang der Wüste verlaufende Seidenstraße verband hier eine Reihe von Oasenstädten, die viele Tagesreisen mit der Karawane voneinander entfernt lagen. Die Entfernungen erlaubten den dort siedelnden Völkern, den Uiguren, Kirgisen, Kasachen, Tibetern und den Russen, recht friedlich zu koexistieren; die Nähe zum großen Handelskorridor gewährleistete kulturelle Verbindungen zum Westen, nach Indien, China und Persien. Die früher übliche allgemeine Bezeichnung des Gebiets als Ost-Turkestan konfligierte über Jahrhunderte mit den Versuchen Pekings (das geographisch etwa eineinhalbmal so weit entfernt war wie etwa Bagdad) oder auch anderer Nachbarn, es sich zu unterwerfen.
   Von Zeit zu Zeit flammten Aufstände oder Stammesfehden auf, die die Region in ein Blutbad tauchten, oder es kam zu Interessenkonflikten mit den Großmächten. Dann kam Ost-Turkestan in die Leitartikel der Zeitungen – so wie während des Großen Spiels, als China, Rußland und England sich uneins über die Grenzen in Pamir waren, oder in den 1980er Jahren, als China den Kampf der afghanischen Mudschaheddin gegen die UdSSR unterstützte. Ansonsten war Ost-Turkestan die meiste Zeit nach dem Ende der chinesischen Okkupation 1949 in Vergessenheit geraten.
   Kaxgar, die der kirgisischen Grenze nächstgelegene Stadt, präsentierte sich 2003 wie ein gottverlassenes Nest.

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Dort lebte man nicht nur der eigenen Tradition gemäß, sondern auch in der eigenen Zeit: Sobald sich die nach Pekinger Zeit lebenden chinesischen Arbeiter schlafen legten, begann man im alten uigurischen Zentrum gerade mal mit dem Abendessen. Langsam strömten die Menschen aus der zentralen Moschee und verzweigten sich in den kleinen Gassen, die den Platz umgaben; sie setzten sich gemächlich an die entlang der Straße stehenden Tische oder gingen auf den nächtlichen Lebensmittelmarkt, über dem der Rauch der offenen Feuer und der appetitliche Duft von frischem Fladenbrot lag. Sie trugen Kaftane, hatten lange Bärte, kniehohe Stiefel und hohe Mützen mit Fellbesatz. Die Frauen hatten schwarzgefärbte Brauen, die Männer trugen Messer in den Gürteln – die berühmten Ptschaki, in der Nachbarstadt Yengisar gefertigt, einer Stadt, die über Jahrhunderte Klingen an die auf der Seidenstraße vorüberkommenden Karawanen verkaufte. Auf dem riesigen Markt wurde mit Teppichen, Schafen, getrockneten Eidechsen und Schlangen gehandelt; in den Straßen rasierten Barbiere ihre Kunden, Hufschmiede beschlugen die Pferde mit Eisen, die der benachbarte Schmied angefertigt hatte. Hier brodelte jenes Leben, das Fleming und vor ihm die großen Reisenden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben.
   Anfang der 2000er bedeutete eine Reise nach Kaxgar, sich auf einen Schlag in die Welt von Tausend und einer Nacht zu versetzen; doch das neue Leben zog von allen Seiten herauf, und das chinesische Viertel, das irgendwann einmal am Rand gelegen hatte, zog jetzt einen die alten Bauten unbarmherzig zusammenpressenden Ring. Bei meinen Spaziergängen an mondlosen Abenden unter Hunderten, die hiesigen Moscheen zierenden Halbmonden, verstand ich, daß ich das alles zum letzten Mal sehe – ich war erstaunt über die Geduld, mit der die Uiguren den Veränderungen begegneten. Im benachbarten Tibet setzte China die Veränderungen mit verstärktem Polizeiaufgebot durch.
   Widerstand ließ jedoch nicht lange auf sich warten. 2009 versuchte die Polizei in Ürümqi, der Hauptstadt von Xinjiang, eine Menschenansammlung zu zerschlagen, die wegen der Morde an uigurischen Arbeitern in Südchina aufgebracht war. Die Unruhen steigerten sich zu Pogromen; 197 Menschen kamen zu Tode, überwiegend Chinesen. Die Machtinhaber verhafteten Tausende von Demonstranten, mindestens dreißig wurden zum Tod durch Erschießen verurteilt. Im Gegenzug begannen die Uiguren mit terroristischen Anschlägen, die primitiv, schlecht organisiert, aber regelmäßig waren.
   2010 warfen eine Frau und ein Mann einen Sprengkörper in eine Menschenmenge in Aqsu; unter den sieben Todesopfern waren fünf Polizisten. Ein Jahr später nahmen zehn mit Messern bewaffnete junge Männer eine Polizeistation in Hotan ein, sie protestierten gegen das Verbot, Parandschas (ein burkaähnliches Frauengewand) zu tragen; alle Angreifer und zwei Polizeimitarbeiter kamen ums Leben. Im Juli 2011 brachte eine Serie von Explosionen in Kaxgar zehn Menschen den Tod. Weitere 33 starben bei einem Messerangriff auf dem Hauptbahnhof in Kunming 2014. Ebenfalls in diesem Jahr gab es einen Angriff auf die chinesische Botschaft in Kirgisistan und einen Sprengstoffanschlag auf einen unter chinesischen Touristen populären Tempel in Bangkok.
   Zu dieser Zeit steigerten sich die Repressionen im Inneren von Xinjiang bis zu dem Maß, daß die Uiguren sich in Scharen internationalen terroristischen Gruppen anschlossen. In einem der seltenen Interviews mit The Associated Press erzählten uigurische, in der Türkei lebende Kämpfer, nachdem sie sich am Syrienkrieg beteiligt hatten, daß sie sich nicht für den Dschihad interessierten, sondern Erfahrung im Krieg sammeln wollen, um in der Heimat zu kämpfen. Vor ihren IS-Mitkämpfern hielten sie geheim, daß sie zionistische Arbeiten studierten, um die Erfahrungen der Juden mit dem Aufbau eines eigenen Staates für ihre eigenen Bemühungen um Selbstverwaltung zu nutzen. Wie auch immer, die Islamische Bewegung Ost-Turkestan, die nicht weniger als tausend Kämpfer rekrutiert und nach Syrien gesandt hat, wird jetzt von der Mehrheit westlicher Staaten als terroristische Organisation eingestuft.
   Dies war für Peking wiederum ein großes Glück; 2014 hat es sich offiziell dem internationalen „Krieg gegen den Terror“ angeschlossen.

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Als 2016 Chen Quanguo, bekannt als der „Friedensstifter Tibets“, zum Sekretär der örtlichen Abteilung der Kommunistischen Partei ernannt wurde, nahmen die polizeilichen Maßnahmen in Xinjiang sogar für tibetische Verhältnisse beängstigende Ausmaße an.
   In einer seiner ersten programmatischen Reden versprach der neue Anführer, „die Körper der Terroristen in einem uferlosen Meer eines Kriegs gegen das Volk zu beerdigen“. Drei Monate später begannen die Verhaftungen, seit April 2017 wurden bereits Repressionen veranlaßt, wegen extremer Religiösität, für das Tragen einer Parandscha, weil man einen Bart trug, in exzessiver Weise traditionelle Kleidung anlegte, den Koran öffentlich auslegte oder Kindern gar arabische Namen gab. Die Polizei erhielt Direktiven über die Anzahl der zu Verhaftenden – in einigen Ortschaften erreichte diese Zahl vierzig Prozent der Bevölkerung. Diejenigen, die sich widersetzten, sandte man in „Umerziehungslager“ – in der Wüste errichtete Territorien mit gepanzerten Toren, dicken Mauern, Stacheldraht und einem hohen Aufgebot an Wachpersonal. Als uigurische Quellen davon sprachen, daß in den Lagern Hunderttausende Menschen festgehalten werden, beschloß ich schließlich, erneut nach Xinjiang aufzubrechen.

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   Xinjiang, wo man einst die ersten chinesischen Atomexplosionen durchgeführt hatte, war nun erneut für ein Pilotexperiment ausgewählt worden; dort installierte man einen Großteil der 20 Millionen Videokameras, die im Land zum Einsatz kamen. Die beängstigend hohe Anzahl, die mit bloßem Auge zu erkennen ist, wurde von offiziellen Quellen bestätigt: 2016 überstiegen die Ausgaben für die innere Sicherheit die Verteidigungsausgaben Chinas um 13 Prozent. Zwischen 2014 und 2016 wurde in Xinjiang für die Überwachung zweimal mehr ausgegeben als in anderen Gebieten; 2017 dreimal soviel.
   Heutzutage braucht die chinesische Polizei weniger als sieben Minuten, um einen beliebigen Verdächtigen, dessen Gesicht mit den Angaben in der gigantischen zentralen Datenbank übereinstimmt, in einer Menge zu identifizieren und festzunehmen.

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   In Xinjiang selbst kennt das neue Videoüberwachungssystem keine Schranken. Im ersten Jahr, nachdem Chen Quanguo die Leitung übernahm, wurde das Polizeipersonal um zehntausend neue Beamte verstärkt, und die Zahl der für Recht und Ordnung Sorgenden steigt weiter (für die niederen Dienste werden häufig Uiguren ausgewählt). Ich habe Polizeitrainings auf dem Posten nahe des Eingangs zu Kaxgar beobachtet. Etwa zwanzig Männer und Frauen marschierten vor und zurück, wechselten die Positionen, offensichtlich um eine unsichtbare Menschenmenge einzukreisen: Die Rekruten sahen noch nicht besonders bedrohlich aus, was man von ihren Waffen nicht behaupten konnte.
   Maschinengewehre besitzen nur die chinesischen Kommandeure. Die Uiguren sind mit Speeren mit Gummischäften und Stahlspitzen bewaffnet, mit langen Knüppeln, die man mit beiden Händen zugleich drehen mußte, und mit Vorrichtungen, die einem Joch ähneln und um den Hals des Gegners einschnappen sollen.
   Derartige Jochvorrichtungen hatte ich früher in Tibet gesehen, dort dienten sie wahrscheinlich dazu, diejenigen zu neutralisieren, die sich selbst anzünden wollten – schnappte der stählerne Ring um den Hals des Lamas ein, konnte der Polizist ihn fixieren, ohne ihm gefährlich nahe zu kommen. In Xinjiang war ein anderes Modell in Umlauf, die Holzteile der Konstruktion waren durch Gummi und Plastik ersetzt; am Ring selbst glänzten Kontakte von Elektroschockern. Derartige Elektroschocker waren auch an den Schildern angebracht, ohne die Polizisten sich nie auf der Straße zeigten – am unteren Rand eines solchen Schilds befand sich eine gezahnte Öffnung von brutalem Aussehen, die offensichtlich ebenfalls für den Hals des Gegners gedacht war.

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   Die Einführung von Loyalitätspunkten, dem, wie es offiziell heißt, „sozialen Kreditsystem“, hat China vor vier Jahren angekündigt. Wie dieses System konkret funktioniert, weiß niemand genau, aber bekannt ist, daß die Einstufung aufgrund von einer Masse von Informationen ausgerechnet wird, die der Staat über die Bürger sammelt. Das Ergebnis ist beeinflußt von Bankschulden, Verkehrsbußen, verwerflichem Online-Verhalten („falsches“ Shopping eingeschlossen) und dem Rauchen auf öffentlichen Plätzen. Die Punktezahl läßt sich steigern, wenn man Blut spendet, an einem gemeinnützigen Projekt teilnimmt oder eine Ode für die Kommunistische Partei schreibt. Aber es ist auch leicht, Punkte zu verlieren: Es genügt, zu viele Videospiele zu spielen oder zu häufig in die Moschee zu gehen; berücksichtigt werden auch Reisen in unruhige Regionen und Treffen mit unliebsamen Personen, die mit Videokamera aufgezeichnet wurden.
Mit einer entsprechend hohen Punktzahl darf man ein Hotel ohne Kaution buchen, erhält Nachlässe auf kommunale Dienste und zahlt weniger Zinsen für einen Bankkredit. Mit einer niedrigen Punktzahl ist es schwerer, Arbeit zu finden und eine Wohnung zu mieten. Fallen die Punkte darunter, werden die Probleme noch ernster: Dann ist die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, der Zugang zu guten Läden ist einem verwehrt und sogar, sich auf Bekanntschaftsseiten zu registrieren. Bekannt sind auch Fälle, daß Kinder nicht in gute Schulen aufgenommen wurden, weil die sozialen Punktestände der Eltern zu niedrig waren. Vollständig soll das System ab 2020 funktionieren, aber schon heute ist es Millionen verwehrt, Tickets für Inlandsverbindungen zu kaufen, weil ihr Rating zu niedrig ist.
   In Xinjiang, wo jeder Einwohner praktisch ununterbrochen unter Beobachtung steht, nahm der futuristische Alptraum schnell Züge einer blutigen Antiutopie an.

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