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Lettre 149 / Pavlo Makov
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Inhaltsverzeichnis

LI 149, Sommer 2025

Das Münchner Abkommen

Die Lehren aus der Appeasement-Politik und dem Verrat von 1938

(…)

Lektionen der Geschichte

Inwiefern kann die Erinnerung an den September 1938 und seine Folgen dabei helfen, jenen Krieg zu verstehen, den Rußland gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat – bei allen beträchtlichen Unterschieden, die zwischen den beiden Situationen bestehen?

• Um die wiederkehrende Tatsache zu verstehen, daß die Gewaltanwendung dem Recht vorgezogen wird, ein Klassiker der internationalen Beziehungen, obwohl seit dem 19. Jahrhundert dem Rechtsstaat der moralische Vorrang gebührt.

• Im Hinblick auf die pazifistischen Illusionen, die sich aus unausgewogenen Herangehensweisen und Absichten von Unterzeichnern eines – potentiellen oder tatsächlichen – Abkommens ergeben können: Den Frieden um jeden Preis erhalten zu wollen, schreckt räuberische Mächte nicht davon ab, ihn zu brechen.

• Im Hinblick auf die Rhetorik, wobei Wladimir Putins Rede vom 21. Februar 2022 den Reden Hitlers im September 1938 darin ähnelt, daß den ins Visier genommenen Staaten ihre Legitimität und dem jeweiligen Gegner die Demokratie abgesprochen wird (das eine Mal ist von „tschechischen Folterern“ von Deutschen, das andere Mal von ukrainischen „Nazis“ die Rede) und man dem „Opfer“ vorwirft, eine Destabilisierung der internationalen Szene zu provozieren, ja einen Krieg zu riskieren, falls sich die Situation nicht umgehend ändert. Die jeweiligen Drohungen, die 1939 einen europaweiten Krieg und seit 2022 den Einsatz der Atombombe an die Wand malen, können parallel gesehen werden.

• Im Hinblick auf die Annexion von Gebieten unter dem Vorwand des Schutzes von – deutschen oder russischen – Minderheiten, in Wahrheit aber durch puren Raub aus ökonomischen Interessen, die mit national(istisch)er Verteidigung bemäntelt werden: die tschechische Industrie auf der ­einen Seite, die Bodenschätze und landwirtschaftlichen Ressourcen der Ukraine auf der anderen Seite, wenn auch für den russischen Präsidenten die „politische“ Dimension sicher viel wichtiger ist als damals für Adolf Hitler oder heute für Donald Trump. Ein möglicher Grund könnte auch die Angst vor einer demokratischen „Ansteckung“ sein, welche die autoritären Mächte in Frage stellen würde, weshalb sie jeglichen Pluralismus und allen Protest ­unerbittlich bekämpfen.

• Im Hinblick auf den Willen, eine europäische Ordnung zu zerstören, der man Verachtung entgegenbringt: In dieser Hinsicht kann die Annexion der Krim im Jahre 2014 mit dem Anschluß Österreichs im März 1939 verglichen werden.

• Im Hinblick auf die jeweilige Ausrufung ­eines „imperialen“ Goldenen Zeitalters, an das es anzuknüpfen gelte, indem man benachbarte Gebiete annektiert. Das imperiale Phantasma ist bei Putin allgegenwärtig, inspiriert sowohl von einer neuen Lesart der russischen Geschichte als auch vom Erbe des Sowjetimperiums. Die Trumpsche Erzählung knüpft ebenfalls an diese Nostalgie an, bis sie fast zu einem Abklatsch der Kreml-Erzählung wird.

• Im Hinblick auf die hier wie da bekundete Weigerung, den Willen und die Souveränität demokratischer Nachbarstaaten, also die wichtigsten Regeln des internationalen Rechts, zu respektieren.

• Im Hinblick auf das faktische Debellations­regime, das auf die Annexion folgt – daher die ­russische Weigerung, von einem „Krieg“ zu sprechen, wie man es 1939 auch in bezug auf Polen machte –, was erlaubt, die internationalen Regeln der Kriegsführung in bezug auf Militärangehörige und Zivilbevölkerungen zu mißachten, die einer neuen diktatorischen Binnenordnung unterworfen werden, der einzigen, die von den Aggressoren akzeptiert wird. Bei den Erben des Sowjetregimes findet man immer noch dasselbe Simulakrum eines rein formalen Festhaltens an der Legalität.

• Im Hinblick auf den Bruch zuvor unterzeichneter Verträge (im Falle Deutschlands die Garantieerklärungen des Locarno-Pakts vom Oktober 1925, zumindest seinem Geiste nach; im Falle Rußlands die Verträge zum Abzug der Atomwaffen aus der Ukraine, die am 4. Dezember 1994 in Budapest unterzeichnet wurden): In der unbegrenzten Gewaltanwendung sind Verträge nichts als ein Fetzen Papier und gelten nur für diejenigen, die an sie glauben wollen. 

• Im Hinblick auf die Zaghaftigkeit der westlichen Mächte – seien es London und Paris im 20. Jahrhundert oder die NATO- und EU-Mitglieder im 21. Jahrhundert –, die nicht imstande waren, ihre Macht und Stärke ihren Verpflichtungen anzupassen.

• Im Hinblick auf ein Szenario, das dieselben Kunstgriffe anwendet und schließlich zur Annexion des begehrten Gebiets in mehreren Etappen führt.

• Um daran zu erinnern, daß ein Aufschub des Widerstands unter diesen Bedingungen nur den Appetit des Räubers anregt.

• Schließlich im Hinblick auf die Unterschätzung des Beuteobjekts auf der internationalen Büh­ne, wo es von vielen als verschiebbare Variable zur Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens betrachtet wird, weshalb man ihm nur marginale Bedeutung beimißt. Ähnlich wie der deutsche Gebietsgewinn ge­genüber der Tschechoslowakei in den Jahren 1938 und 1939 wäre auch eine Niederlage der Ukraine, die den Wunsch hegt, sich dem Westen (NATO, EU) anzuschließen, ein beträchtlicher Gewinn für Rußland in seinem Kampf gegen Europa.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 150 erscheint Ende September 2025.