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Cover Lettre International, Marina Roca Die
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LI 118, Herbst 2017

Schwimmen

(…)

Das Fliegen ist mühsam und das Gehen eintönig. Außer man bahnt sich einen Weg durch die Menge (Freude der Aufstände und Demonstrationen): Da muß man eine Strömung erwischen, im Gänsemarsch gehen oder im Profil vorankommen, die Kontaktzonen vorwegnehmen und die unvermeidlichen Kollisionen – tanzen.
Aber das Tanzen ist immer noch eine Praxis der Erde. Die ganze Kunst besteht darin, sie unter seinen Füßen zu fühlen, landen zu können. Die Schwerkraft nicht zunichtemachen, sondern verlagern, neue Abstoßmöglichkeiten für eine möglichst große Vertikalität zu entdecken, die Richtungen ausnützen, und so ist es der Blick, der trägt, ist es die unsichtbare Himmelsrichtung, die ohne zu blinzeln ins Auge gefaßt wird, die zwischen Boden und Luft den Faden spannt, auf dem man sich kerzengerade hält. Eine Kunst des Hofes und folglich der Sklaven, der List und des Hochmuts, die die Anstrengung als Leichtigkeit maskiert und den Zwang als Anmut. Ich meine hier den klassischen Ballett-Tanz, den ich liebe wegen seiner Askese, morgens an der Stange, abends im Ballettsaal, eine unermüdliche Zähmung, denn es ist auch eine Kunst des Körpers als Sklave, des Körpers als Instrument, eine Technik der Trennung (wie viele Philosophen im Tanzsaal?), dieser Körper ist nicht mehr meiner, sondern eine fragmentierte Materie, kein Fleisch mehr, nur mehr ein Blick, Muskeln und Sehnen, ein subtiler Körper, den man gänzlich, von den Wimpernspitzen bis zu den Zehenspitzen, mit Bewußtsein durchdringen muß.

(…)

Schwimmen, tanzen, lieben: die drei Verklärungen des Körpers. Ich weiß nicht, wie sie angeordnet sind, ich weiß nur, daß sie miteinander in Verbindung stehen. Es gibt die Tänzer-Liebhaber, die Übergänge erfinden, die Tempi wechseln, einen faszinierten Raum erzeugen, und die Schwimmer-Liebhaber, in ihren Armen ist man zugleich das Wasser und die, die in ihm ertrinkt, sie tauchen wie ein schwerer Stein umkettet von den verflochtenen Gliedern, Stufe um Stufe sinkt man aneinandergeklammert, man dringt wasserdicht in die Stille ein, das innere Rumoren, rauher Atem, Pulsieren des Bluts, in eine von Irrlichtern durchsetzte Nacht, man hybridisiert die Formen, man setzt die Reiche neu zusammen, panisches Tier, Klauen und Krallen, entwurzelte Alge, zuckende Fäden, und unten, ganz unten ist man Sand, knirschende pulverisierte glatte Materie, nie wieder hochsteigen wäre das Beste.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024