LI 149, Sommer 2025
Eine Geste nach unten
Eine Begegnung zweier Künstler und ein Spiel zwischen Mensch und TierElementardaten
Genre: Essay, Erinnerung
Übersetzung: Aus dem Französischen von Dieter Hornig
Textauszug: 7.652 von 60.155 Zeichen
Textauszug
(…)
1
Sie bietet mir eine Zigarette an, wie man ein Gebetshalfter anlegt. Sie nähert ihr Gesicht. Ich reiche ihr meine Flamme. Sie atmet ein, füllt und leert ihren Körper; der Rauch wandert durch ihre Brust, ihre Schultern und ihren Nacken, entweicht mit der Bewegung ihrer Hand.
Wir sitzen einander an einem Tisch gegenüber, hinter ihr ein rauchender Hund.
Mit ihren diaphanen Venen und ihrem Schwanenhals erinnert sie mich an ein Vollblutrennpferd. Langsam strecken sich ihre Arme weit nach oben, wie ein traumverlorener Schiffbrüchiger fängt sie mit ihren grazilen Händen ihre Gedanken auf.
Ohne zu erröten, Auge in Auge, stoßen wir sachte mit unseren Gläsern an; ein Tulpenduett mit scharlachroten Wangen. Hier ist das Schweigen kein Alibi, sondern das Zeichen einer gegenseitigen Anerkennung: der der Schüchternen.
Wir haben einander sofort erkannt, als Seelenträger, als Stammesführer, die das Schicksal erzwingen und, ständig auf der Lauer, keine Hemden tragen.
Wie zwei Wortkarge, die einander entdecken, haben wir einen Strom unnützer Worte geteilt; unsere Reisen, unsere Begegnungen, unsere Abenteuer und die Last unserer Ensembles. Von Zigarette zu Zigarette und von Glas Wein zu Zigarette haben wir uns ausgetauscht über unsere Zweifel und die Qualen des Schaffens. Ich habe lange über meine Pferde gesprochen, sie sehr kurz über ihre Tänzer.
Und schließlich hat sich die Stille durchgesetzt.
Die Lust am Sprechen ist der Lust am Tun gewichen.
„Ich möchte Ihnen ein Pferd vorstellen … es heißt Micha Figa.“
Der Rauch steigt zum Himmel, ungetrübt von ihrem Atem oder ihrer Hand.
Wir bestellen Wein nach.
Wir trinken, ohne zu reden, mit suchendem Blick. Als wir unsere Gläser absetzen, ist niemand mehr da. Wir stehen auf und sie folgt mir.
Wenn eine Herausforderung vor uns hintritt, durchbohrt sie uns wie ein Schwert. Heute nacht werden wir Micha Figa besuchen, das Pferd, das, so hoffe ich, diese gequälte Seele aufnehmen kann. Auf der Fahrt zum Théâtre Zingaro in meinem trägen Plymouth tauschen wir schweigend noch einige Zigaretten.
Ich ermesse heute, welche Kühnheit und welches Vertrauen sie unter Beweis stellen mußte, um sich dergestalt auf die Bahn des Unbekannten zu begeben.
2
(…)
Eine Box ist ein Beichtstuhl, in dem man die Seele der Pferde atmen hört. Durch die einen Spalt breit geöffneten Fenster werden ihre innersten Geheimnisse in Mondlicht getaucht. Vor jeder Tür, auf einer kleinen Schiefertafel, ein Name mit ihrer Geschichte.
Wir gelangen zu Micha Figa. Der Engel ist da, reglos in seiner bernsteinfarbenen Nacktheit. Er scheint uns zu erwarten und manifestiert es mit den Ohren; auch er ist ein Schüchterner.
Ich öffne die Tür einen Spalt, er rührt sich nicht. Ich trete ein und streichle ihm mit einer Hand, die Pferde zu besänftigen weiß, den Hals. Ich fordere sie nun auf, es mir nachzutun, sie ist gerührt, wendet das Gesicht ab und erklärt mir mit ruhiger Stimme, wie eine Priesterin, die um Distanzen weiß, daß sie sich nicht vorstellen kann, zum Zeichen des Grußes mit ihrer Hand den Hals eines Fremden zu streicheln.
Sie wendet sich Micha Figa zu: Mit seinen haselnußbraunen Augen und seinem mondähnlichen Fell entkleidet er ihr Herz. Nun macht auch sie die Erfahrung, sie tritt vorsichtig ein und hockt sich in die Ecke neben der Tür. Ich ziehe mich zurück, nur ein wenig, damit er sieht, daß ich sie sehe. Angeregt durch ihre Besetzung des Raums hebt das Tier den Kopf und zeigt ihr in einer edlen Geste des Widerstands die Kruppe. Indem er die Eingedrungene ignoriert, zwingt er sie zu handeln! Sie erhebt sich … Er dreht sich um … Sie stehen einander gegenüber, vor dem Unbekannten.
Sie beobachten einander lange – und wissen es nicht. Sie sind ein Spiegel füreinander. Sie möchte in ihm sein; ich weiß, daß er im Begriff steht, sie in das Universum aufzunehmen, in dem er lebt.
Sie blickt nach unten und dann auf zu ihm, um seinem Blick zu begegnen; diese Art und Weise des Zurückgebens und Zurücknehmens, die wir mit dem Tier teilen. In dem Augenblick, in diesem Moment des Stillstands, in dem ich mich frage, wie ich ein sanftes Wort einbringen kann, bebt ihre Stimme. Sie flüstert jubelnd seinen Namen: „Micha Figa … Miicha Fiiga“, und betont zwei Mal das i, um ihren deutschen Akzent sanfter klingen zu lassen. Jetzt ist es für sie an der Zeit, den Schritt der Befragung zu skizzieren.
Sie bietet ihm zum Zeichen ihrer Huldigung ihren Hals dar. Das Pferd nähert sich und berührt mit gespitzten Lippen ihre Stirn mit einer sehr alten Zunge, dann stößt es einen Seufzer der Resilienz aus und wendet sich ab. Sie öffnet die Augen, und ihr Gesicht ist nur mehr geküßte Stirn und glänzender Blick.
Nun heißt es sich lösen, morgen werden wir woanders vorankommen. Ich weiß, daß in ihrer beider Herz alles erst noch entstehen muß.
(…)
4
(...)
Zarte Knorpel.
Mit ihren Armen fleht sie. Sie stützen sich auf die Luft wie die Flügel eines großen Vogels, die mit einem Flügelschlag die Zeit rezitieren. Ich sehe eine merkwürdige Zartheit im Blick von Micha Figa. Eine so delikate Weise, sie zu betrachten, als sie ihren endlosen Arm ausstreckt und ihre Hand ein Wort zeichnet, das davonfliegt.
Plötzlich hält sie inne, ihr Körper existiert nicht mehr, ihre Hände wollen nicht mehr sein.
Das Tier fragt sich. Es möchte das Geheimnis dieses Wesens erhellen, das sich bewußt weigert, eins zu sein.
„All das ist nicht richtig! Es ist so kitschig.“
Ich antworte nicht, ich sage mir, daß es normal ist, sich zu verirren. Sie muß sich ihm hingeben, mit ihm sprechen. Denn jedes Ansprechen kann eine Antwort hervorbringen; die Prämissen einer Sprache.
Sie kommt mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
Er geht gleichgültig um sie herum.
Am Ende läßt sie, vor ihm stehend, ihre Augen sich schließen.
Sie hat ihm ihren Tanz zu Füßen gelegt.
Jetzt erst nähert er sich ihr, streift ihr Ohr und läßt einen Seufzer fahren, der sich im Schauder ihres Wesens verliert.
Die Zärtlichkeit dieser Liebkosung umschwebt sie, als ich das Tier in die Box zurückbegleite.
(…)
11
Die Nächte folgen aufeinander, ohne auch nur den Anschein eines Inhalts zu enthüllen. Ich bin der Gefangene meiner eigenen Wahrnehmung. Die Zeit verfließt, während mein Wunsch, mich meinen Emotionen zu öffnen, mir die Klarheit raubt. Doch nach langer Beobachtung kommt ein Moment, in dem wir deutlicher hören.
Seitdem sie den Schlaf geteilt und vielleicht ihre Träumereien ausgetauscht haben, sehe ich deutlich, daß sie beide an jeden erdenklichen Zauber glauben wollen. Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet. Insgeheim träume ich bereits das Ergebnis voraus.
Er steht ihr gegenüber, die Hufe im Lot seines Körpers zum Zeichen der Befragung. Eine stumme Frage, die sie mit den Wörtern ihres Körpers zu beantworten sucht. Ihre Arme strecken sich ihm entgegen. Hypnotisiert von der Bewegung dieser Hände, die so leicht sind wie Luft, beginnt das Tier mit seinem Kopf eine schwingende Bewegung, die nach und nach seinen Hals und seine Schultern erfaßt. In einer elementaren Kommunikation, einer Umkehrung des Spiels mit dem Spiegel erfindet er ein Vokabular. Diese Bewegungen der Arme, dargebotene Freiheit, begleitet er nun mit der ganzen Breite seiner Vorhand, beharrlich wie ein Wesen, das sich in Übereinstimmung mit dem anderen realisiert. Sie halten einander mit den Augen, sie atmen einander organisch. Sie ahmen einander nicht nach, erschaffen aber eine Natürlichkeit.
Beim Menschen wie auch beim Tier enthüllt jede Geste ein Gefühl. Jede Bewegung ihrer Körper hinterläßt ein Kielwasser, eine Spur, zusammen sind diese mehr als Gebete.
Ich weiß, in dieser Nacht sind es nicht meine Augen, die gesehen haben, sondern mein Herz, das ein verschüttetes Gedicht ausgegraben hat.
(…)