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Inhaltsverzeichnis

LI 124, Frühjahr 2019

Kampf

Eine Anleitung, beim Training

   (…)

Was ist feministisch? Die Frage begegnet mir immer öfter. Ich trage Definitionen zusammen, erarbeite Interpretationen, verweile an Schnittstellen und Kreuzungspunkten. Aber die Frage bleibt: Was ist feministisch? Ich wechsle zwischen Standpunkten, stolpere über Widersprüche, klammere mich an meine Fiktionen. Was ist feministisch? Ich habe hundert Antworten und keine, weil ich mich nicht für eine einzige entscheiden kann. Wenigstens dachte ich das, bis ich auf ein Wort stieß, das bei „feministisch“ immer mit anklingt: „Kampf“.

   (…)

Jede Frau ist das Ergebnis ganz bestimmter Umstände wie ethnische Zugehörigkeit, Alter, soziale Klasse und Herkunftsort, Charakter, Geschichte, Aussehen und Begabungen, Religion, Erziehung, Beruf und Motivation – und deshalb hat jede Frau eine andere Fähigkeit, sich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr zu setzen.

Das erkennen immer mehr Menschen, aber viele bleiben ambivalent. Sie sagen: Was ist mit einem Flirt? Darauf kann man nur antworten: Warum stellt ihr immer wieder diese Frage? Was wollt ihr bestätigt, bestritten oder gerechtfertigt haben?

Ein Flirt ist ein Kompliment, das zwei Menschen einander in gegenseitigem Einverständnis machen, oft ohne den geringsten körperlichen Kontakt. Manchmal entwickelt sich aus diesem Kompliment in gegenseitigem Einverständnis eine größere Intimität. Der Flirt spricht unser Urbedürfnis an, andere wertzuschätzen und selbst wertgeschätzt zu werden. Es ist eine Begegnung, die etwas grundlegend und in sinnlicher Weise Menschliches in und zwischen den Beteiligten bekräftigt. Für viele Menschen in festen, liebevollen Beziehungen ist der Flirt harmlose Untreue: der elektrisierende Schauder eines Blicks, eines Lächelns, einer Unterhaltung, aufgeladen mit dem Funken gegenseitiger Anziehung, aber begleitet von der stillschweigenden Vereinbarung, nicht weiterzugehen. Nur daß es manchmal, trotz anderslautender Absichten, doch passiert. Und auch das ist in Ordnung, wenn es die freie Entscheidung der Beteiligten ist.

Für die Antwort der selbsterklärten Feministinnen auf #MeToo sind vielleicht, bis zu einem gewissen Grad, Generationenunterschiede verantwortlich. Aber auch das Wesen des Feminismus selbst sollte betrachtet werden. Ideologien und Bewegungen entwickeln sich weiter, ihre Parameter werden ständig neu definiert: von der Zeit, dem Ort und den Menschen, die sie verkörpern. In unserer Epoche des Hochkapitalismus ist Feminismus etwas geworden, in das man sich einkaufen kann, ein Katalog, aus dem man pseudopolitische Entscheidungen beziehen kann, passend zur jeweiligen Situation. Weit verbreitet ist die Überzeugung, daß man frei ist, wenn man „Optionen“ hat, Entscheidungsmöglichkeiten, und daß „feministisch“ bedeutet, sich herauspicken zu können, was man will. Damit wird die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, zu einer Form des Konsums, allerdings ohne das Bewußtsein, daß wahre Emanzipation in dem liegt, wofür und wie man sich entscheidet. Bei wirklich feministischen Entscheidungen geht es um Gerechtigkeit: darum, daß die Dinge für alle besser werden, nicht nur für einen selbst. Ohne diese Erkenntnis ist Feminismus ein grelles Aushängeschild ohne jede Bedeutung. Als würde man Boxhandschuhe anziehen ohne die Absicht, in den Ring zu steigen.

Während es viele oberflächliche Entscheidungsmöglichkeiten gibt, die Aufmerksamkeit und Energie kosten und mit falschen Privilegien locken, ist die tatsächliche Handlungsvollmacht einer Frau – bezüglich ihrer Lust, bezüglich ihres Körpers – unablässig bedroht. Es gibt Versuche, die Kampfarena zu verkleinern, so daß den Frauen immer weniger Spielraum bleibt. In Ländern überall auf der Welt wird das Entscheidungsrecht von Frauen zunehmend eingeschränkt, ihr Recht auf Zustimmung ignoriert.

   (…)

Es gibt Frauen, die sagen, ich habe nie zugelassen, daß meine Hautfarbe oder mein Geschlecht meiner Entwicklung in die Quere kommt. Frauen, die sagen, ich habe die unsichtbare Barriere nur durch harte Arbeit durchbrochen. Frauen, die sagen, ich habe mein Geschlecht nie als Entschuldigung für irgend etwas benutzt. Darauf kann man nur antworten: Schön für dich – aber warum glaubst du, daß deine Einstellung oder Erfahrung ein Maßstab für alle Frauen sein kann? Es gibt Männer und Frauen, die sagen, wenn du keine Diskriminierung und keine Vorurteile siehst, bekommst du das zurück. Darauf kann man nur antworten: In welcher exklusiven Wirklichkeit lebt ihr eigentlich?

Es gibt eine wachsende Zahl von Frauen, die sagen, ich möchte nicht durch meine Weiblichkeit definiert werden. Frauen, die sagen, ich möchte nicht auf mein Geschlecht reduziert werden. Frauen, die sagen, ich lehne westliche Klassifizierungen wie „Frauenliteratur“ oder „weibliche Kunst“ ab. Diese Frauen erkennen zwar die Nachteile, die ihnen ihr Geschlecht bringt, möchten aber keine Interessengruppe sein, die andauernd Zugeständnisse verlangt, die selbstverständlich sein sollten. Ich verstehe diese Position, ja ich teile sie bis zu einem gewissen Grad. Trotzdem – und obwohl ich oft nicht damit einverstanden bin, wie (von wem und zu welchem Zweck) der Begriff „Frau“ verwendet wird – halte ich es für geboten, mich der Kategorie „Frau“ zugehörig zu fühlen, so unbefriedigend diese Kategorisierung auch sein mag. Denn die Situation derer, die unter dieser Kategorie subsumiert werden, ist nicht stabil: Die Rechte der Frauen und die Repräsentation von Frauen in Machtpositionen sind noch nicht ausreichend und sicher genug, als daß man auf diese Kategorie verzichten könnte. Ich möchte mit den Frauen und ihrem Kampf für Gerechtigkeit verbunden sein, auch wenn ich weiß, daß es kein Kampf allein für und mit Frauen ist oder sein kann.

   (…)

Einen Kampf zu gewinnen bedeutet nicht unterwerfen, herabsetzen, zerstören. Zu einem erfolgreichen Kampf gehört innehalten, zuhören, Solidarität üben. Der feministische Kampf jedenfalls ist kein Kampf, den du mit der Aussicht auf einen schnellen Sieg aufnimmst. Du kämpfst, weil es die einzige Möglichkeit ist, mit einem Mindestmaß an Integrität zu leben. Du kämpfst im Bewußtsein, daß der Schauplatz des Kampfes nur ein kleiner Teilbereich in einer Schlacht mit zahllosen Fronten ist. Du kämpfst im Wissen darum, daß du, auch wenn du in Bestform bist, immer im Training bleiben mußt – um dich zu entwickeln und zu stärken, um deine Stellungen und Strategien für die sich ständig verändernde Aufgabe namens Feminismus zu schärfen. Du kämpfst im Bewußtsein, daß jeder Treffer, den du landest, einem anderen Anliegen nützen oder schaden kann. Du kämpfst, weil Weitermachen der einzige Weg ist, das gnadenlose Risiko zu verlieren zu bekämpfen.

   (…)
 

 

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