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Cover Lettre International, François Fontaine
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LI 112, Frühjahr 2016

Woher kommst du?

Woher kommst du? Eine trügerisch einfache Frage, die viele einschließt, vor allem: Wer bist du? Warum bist du hier? Wie bist du hergekommen? Allerdings wird die Standardfrage Woher kommst du? oft für bare Münze genommen und mit geographischen Angaben beantwortet. Doch Herkunft ist nie einfach eine Frage der Geographie. Ganz im Gegenteil, Herkunft fließt über die Ränder aller vorhandenen Karten hinaus.

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Bis Ende Zwanzig hatte ich eine nichtssagende Antwort auf jede Frage, die meine Wurzeln betraf: „Meine Familie stammt aus Indien, aber ich wurde in London geboren und bin in Kenia aufgewachsen.“ Drei verschiedene Kontinente in einem Satz vereinigt, um zu erklären, wie ich aussah, welchen Paß ich besaß, wo ich bis zu diesem Zeitpunkt den größten Teil meines Lebens verbracht hatte. Die saubere Konstruktion unterstrich auch meinen Internationalismus, für mich der entscheidende Aspekt meiner Herkunft, der mich – zumindest glaubte ich das – von den Zwängen der Nationalität und den Fesseln der Geschichte befreite. Wenn du nirgends exakt verortet bist, können auch keine Forderungen an dich gestellt werden – richtig? Falsch. Es gibt keinen kosmopolitischen Zustand, der dich von der Verantwortung für irgendeine Zeit oder irgendeinen Ort – und schon gar nicht für die Vergangenheit – entbindet.

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Es spielt keine Rolle, wie multikulturell oder wie weitgereist du bist, du bleibst provinziell und beschränkt, wenn du nicht regelmäßig aus deinem Denken hinaustrittst. Arendt drückt es glänzend aus: „Mit einer ‘erweiterten Denkungsart’ denken heißt, daß man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen.“ Ich glaube, die Literatur ist das beste Trainingsgelände für die Einbildungskraft. Du weißt nie, wie weit dich eine Geschichte verschlägt: Sie kann das Vertraute ungewohnt, das Fremde heimisch, das Exotische verständlich, das Erwartete überraschend machen. Geschichten bringen das Schweigen zum Tosen, erwecken Tote zum Leben, exhumieren Vernichtete, gewinnen dem Chaos erkennbare Formen ab. Egal, woher du kommst, die Literatur ist die sicherste und gefährlichste Art zu reisen.

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In einer Welt sich ständig verschiebender Grenzen ist der Körper – die stoffliche Hülle des Ich – eine der wirklich verläßlichen Grenzen (oder sollte es sein). Vor nicht allzu langer Zeit konntest du mit Fug und Recht annehmen, daß du das wichtigste Behältnis deiner Gedanken und Handlungen warst. Das hat sich mit dem Internet verändert. Wenn wir es benutzen, werden wir zu entkörperlichten Daten, unsere Nachrichten rasen durch die unterirdischen und unterseeischen Kabel, die unseren Planeten kreuz und quer durchziehen, unsere Gedanken breiten sich im Netz aus, unsere Bilder sind in der Cloud gespeichert. Diese Streuung unseres Ichs in der virtuellen Welt mag verlockend, vielleicht sogar symbolisch treffend für unser globalisiertes Zeitalter sein. Ich fände es auch sicherlich reizvoll für mich, wäre da nicht der Umstand, daß die unsichtbare Architektur des Internets zugleich ein gigantischer Überwachungsapparat ist. Jede unserer Online-Aktivitäten wird von Staaten und Unternehmen aufgezeichnet, analysiert und gespeichert, um uns dann mit Hilfe von Algorithmen zu virtuellen Prototypen zu verarbeiten, die ihnen dazu dienen, unser Verhalten besser vorherzusagen oder zu beeinflussen.

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Das Internet mit seiner Fähigkeit, unser Wissen und unsere Verbindungen auszuweiten, müßte eigentlich das perfekte Werkzeug zur „Erweiterung des Geistes“ sein, aber die pausenlose Verfolgung aller unserer Online-Aktivitäten reduziert uns letztlich. Große Datenmengen machen uns klein, weil sie versuchen, zu vereinfachen und zu klassifizieren, um aus uns willige und konsumfreudige Verbraucher zu machen – nicht nur von Dingen, sondern auch von unseren eigenen Gedanken. Algorithmen verengen uns auf die Summe unserer Klicks und Anschläge, reduzieren unsere Wahlhandlungen so, daß sie unsere früheren Präferenzen widerspiegeln, lenken unsere Aufmerksamkeit unauffällig auf mehr von dem, was wir bereits wissen. Amazon, das fast jedes Buch verkauft und – theoretisch – die Lesegewohnheiten erweitern und in Frage stellen sollte, schränkt sie in Wahrheit ein. Meine ersten beiden Romane sind fest in der Amazon-Kategorie „südasiatische Autoren“ verortet: Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften (anscheinend) nur Bücher von anderen vermeintlichen Südasiaten oder zumindest braunhäutigen Autoren. Die Empfehlungen der Händler – „Ein neues Buch für Sie“ – sind überwiegend Variationen auf alte Bücher, die du bereits gekauft hast. Wer solchen Ratschlägen folgt, landet in einem immer enger werdenden Pool des eigenen mißdeuteten Geschmacks.

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