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Cover Lettre International 56, Pedro Cabrita Reis
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LI 56, Frühjahr 2002

Hypothesen zum Terrorismus

Die Regeln des Spiels, die Verschlimmerung des Stands der Dinge

(...)

Wenn der Terrorismus für sich in Anspruch nimmt, den Staat oder die Weltordnung zu destabilisieren, dann ist dieser Anspruch unsinnig: Es herrscht dort bereits soviel Unordnung und Deregulierung, daß es ziemlich unnötig ist, noch dazu beizutragen. Man riskiert damit sogar, die Herrschaft des Staats zu festigen, was man an den nun überall eingeführten neuen Polizei- und Sicherheitsmaßnahmen sehen kann.

Aber vielleicht ist gerade das der Traum der Terroristen: Sie träumen von einem unsterblichen Feind. Wenn es ihn nicht mehr gibt, wird es viel schwieriger, ihn zu vernichten. Eine Tautologie zweifellos, aber der Terrorismus ist tautologisch, und sein Kalkül klingt wie ein paradoxer Syllogismus: Wenn der Staat, wenn eine politische Macht wirklich da wäre, dann würde er dem Terrorismus einen politischen Sinn geben. Da dieser aber offensichtlich keinen hat (seine politischen Konsequenzen sind lächerlich), dann ist das der Beweis dafür, daß es diese politische Macht nicht gibt. Anders gesagt: Es gilt deshalb, die Ohnmacht und Lächerlichkeit der Politik ins volle Licht zu bringen.

Wie lautet also die geheime Botschaft der Terroristen?

Dazu fällt mir eine Fabel von Nasreddin ein: Tag für Tag treibt Nasreddin seine Maultiere, mit schweren Säcken beladen, über die Grenze. Die Säcke werden jedesmal durchsucht, aber man findet nichts. Und Nasreddin treibt weiter seine Maultiere über die Grenze. Lange Zeit später wird Nasreddin gefragt, was er eigentlich geschmuggelt habe. „Maultiere", erwidert Nasreddin.

Überall wird nach Beweggründen für den terroristischen Akt gesucht, man vermutet sie in der Religion, im Märtyrertum, in Rachewünschen oder Strategien. Was steckt dahinter? Was ist das Ziel? Was ist die wahre Schmuggelware? Die geheime Botschaft ist aber ganz einfach zu entschlüsseln: Es geht um das, was uns als Suizid erscheint, um den unmöglichen Tausch des Todes, die Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes – der gleichsam zu einer absoluten Waffe wird. Anscheinend haben die Türme des World Trade Centers die Botschaft verstanden: Es sah so aus, als ob sie den Angriff der Kamikaze-Flieger mit ihrem eigenen Selbstmord erwiderten.

Das würde ich die souveräne Hypothese nennen (in Anklang an Nietzsche, der der banalen Hypothese des Wechsels und der Geschichte die souveräne Hypothese des Werdens entgegenstellte).

Die souveräne Hypothese lautet, daß der Terrorismus im Grunde sinnlos und ziellos ist und sich nicht an seinen realen politischen oder historischen Konsequenzen mißt. Und daß er paradoxerweise gerade durch seine Sinnlosigkeit zum Ereignis wird – in einer Welt, die mehr und mehr von Sinn und Effizienz übersättigt ist.

Die souveräne Hypothese sieht im Terrorismus – jenseits seiner spektakulären Gewalt, jenseits von Islam und Amerika – das Auftreten eines radikalen Antagonismus im Prozeß der Globalisierung selbst, einer Kraft, die sich der vollständigen technischen und mentalen Realisierung der Welt, der unerbittlichen Evolution einer endgültigen, unwiderruflichen Weltordnung von innen heraus widersetzt.

Eine lebendige Gegenmacht gegen die Todesmacht des Systems. Verweigerung dessen, was ich die totale Identifizierung der Welt nennen würde, einer Welt, die restlos aufgeht in Zirkulation und Tausch. Macht einer unbeugsamen Singularität, die immer heftiger wird, je weiter das System seine Hegemonie ausdehnt – bis zum Bruch, wie im Ereignis des 11. Septembers, was den Antagonismus freilich nicht aufhebt, ihm aber plötzlich eine symbolische Dimension verleiht.

Hier ist der Geist des Terrorismus. Durch den traditionellen Kampf beziehungsweise Klassenkampf wird das System nie besiegt werden. Das ist eben das vom System selbst eingeprägte Imaginäre (Revolutionäre), wodurch es allein überlebt, indem es seine Gegner ständig auf das Gebiet der Realität verführt, das sein Territorium, sein ureigenstes Terrain ist. Der Kampf muß also in die Sphäre des Symbolischen verlagert werden, wo die Regeln Herausfordern, Umkehren und Umwälzen sind. Wo man auf den Tod nur mit einem gleichwertigen oder höheren Tod antworten darf. Wo man das System durch eine Gabe herausfordert, das es nicht erwidern kann, außer durch seinen eigenen Tod, den eigenen Zusammenbruch.

Die terroristische Hypothese heißt, daß das System diese vielfältige Herausforderung durch Tod und Selbstmord nur mit seinem Selbstmord beantworten kann. Denn weder das System noch die Staatsgewalt dürfen sich der symbolischen Verpflichtung der Gegengabe entziehen, wenn sie nicht das Gesicht verlieren wollen. In diesem schwindelerregenden Kreislauf, in diesem unmöglichen Austausch des Todes ist der Tod des Terroristen ein winziger Punkt, der aber eine gewaltige Anziehungskraft ausübt. Um diesen winzigen Punkt verdichtet sich das ganze System, es verkrampft sich, krümmt sich in sich selbst zusammen und stürzt schließlich in den Abgrund der eigenen Potenz.

Die Taktik des terroristischen Modells besteht darin, einen Realitätsexzeß zu provozieren und das System unter diesem Übermaß an Realem zusammenbrechen zu lassen. Die gesamte von der Staatsmacht entfesselte Gewalt kehrt sich schließlich gegen sich selbst, denn die Terrorakte sind gleichzeitig deren Zerrspiegel und das Modell einer symbolischen Gewalt, die ihr versagt bleibt, der einzigen Gewalt, die sie nicht ausüben kann: die ihres eigenen Todes.

Deshalb vermag die ganze sichtbare Macht nichts gegen den winzigen, aber symbolischen Tod einzelner Individuen. Die Kraft liegt im Verschwinden, in der Schaffung einer Zone gewaltsamen Verschwindens, in der die feindliche Macht sich verheddert, weil ihr ein sichtbarer Feind fehlt. Die Ohnmacht der neuen Weltordnung wird daran deutlich, daß es ihr nicht gelingt zu definieren, was sie bedroht, was ihr entgeht, was sie destabilisiert und von innen her zersetzt. Ihr bleibt nur noch die Flucht nach vorn, zu einem übersteigerten Beweis ihrer Macht: Das heißt Krieg.

(...)
 

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