LI 77, Sommer 2007
Warum ist nicht alles schon verschwunden?
Elementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Textauszug
Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie noch nicht ist.
Wenn  ich von einem Ort spreche, dann deshalb, weil er verschwunden ist.
Wenn  ich von einem Menschen spreche, dann deshalb, weil er schon tot ist.
Wenn  ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie schon nicht mehr ist.
Sprechen  wir also von der Welt, aus der der Mensch verschwunden ist.
Es  handelt sich um ein Verschwinden, und nicht um Erschöpfung, Aussterben  oder Vernichtung. Die Erschöpfung von Ressourcen, das Aussterben von  Arten, das sind physikalische Prozesse oder Naturphänomene.
Eben  darin besteht der ganze Unterschied: Die Spezies Mensch ist zweifellos  die einzige, die einen spezifischen Modus des Verschwindens erfand, der  nichts mit dem Naturgesetz zu tun hat. Vielleicht sogar eine Kunst des  Verschwindens.
Beginnen wir mit dem Verschwinden des Realen. Über  den Mord an der Realität im Zeitalter der Medien, des Virtuellen und  der Netze ist genug gesagt worden – ohne daß man sich allzusehr die  Frage gestellt hätte, wann das Reale denn zu existieren begann. Wenn man  nun aber genauer hinschaut, sieht man, daß die reale Welt in der  Moderne mit dem Entschluß beginnt, sie umzuwandeln, und zwar durch  Wissenschaft, die analytische Erkenntnis der Welt und deren  technologische Anwendung – das heißt, Hannah Arendt zufolge,1 mit der  Erfindung eines archimedischen Punkts außerhalb der Welt (ausgehend von  der Erfindung des Teleskops durch Galilei und der Entdeckung der  mathematischen Berechnung), wodurch die natürliche Welt definitiv auf  Distanz gehalten wird. Das ist der Moment, da der Mensch sich der Welt  zum einen entledigt, indem er sie analysiert und verwandelt, ihr  gleichzeitig aber auch Realitätskraft verleiht. Man kann also sagen, daß  die reale Welt paradoxerweise genau zu jenem Zeitpunkt zu verschwinden  beginnt, da sie zu existieren beginnt.
Durch sein  außergewöhnliches Erkenntnisvermögen löst der Mensch, während er der  Welt Sinn, Wert und Realität verleiht, gleichzeitig und parallel dazu  einen Prozeß der Auflösung aus. („Analysieren“ bedeutet wörtlich  „auflösen“.)
Wir müssen jedoch zweifellos noch weiter  zurückgehen: bis zum Begriff und zur Sprache. Indem der Mensch sich die  Dinge vorstellt, sie benennt und in Begriffe faßt, sorgt er dafür, daß  sie existieren, jagt sie jedoch gleichzeitig ihrem Verlust entgegen,  löst sie auf subtile Weise von ihrer rohen Realität. So existiert der  Klassenkampf von dem Moment an, da Marx ihn beim Namen nennt. In seiner  intensivsten Form jedoch existiert er zweifellos nur vor seiner  Benennung. Nachher ist er nur noch im Schwinden begriffen. Der Moment,  da eine Sache benannt wird, da sich die Vorstellung und der Begriff  ihrer bemächtigen, ist eben jener Moment, da sie beginnt, ihre Energie  einzubüßen – auf die Gefahr hin, zu einer Wahrheit zu werden oder sich  als Ideologie aufzuzwingen. Dasselbe läßt sich auch vom Unbewußten und  seiner Entdeckung durch Freud sagen. Der Begriff tritt in Erscheinung,  wenn etwas zu verschwinden beginnt.
Die Eule, sagt Hegel, beginnt  ihren Flug, wenn die Dämmerung hereinbricht.
Die Globalisierung:  Vielleicht spricht man deshalb so viel von ihr – als einer Evidenz oder  einer unbestreitbaren Realität –, weil sie den Gipfelpunkt ihrer  Bewegung schon überschritten hat und wir bereits unter dem Einfluß von  etwas anderem stehen.
So verflüchtigt sich das Reale im Begriff.  Noch paradoxer ist jedoch die exakt umgekehrte Bewegung, durch die der  Begriff oder die Idee (aber auch das Phantasma, die Utopie, der Traum,  das Begehren) sich in ihrer Realisierung selbst verflüchtigen. Dann  nämlich, wenn durch ein Übermaß an Realität alles verschwindet, wenn der  Mensch dank der Entfaltung einer grenzenlosen – mentalen wie  materiellen – Technologie in der Lage ist, bis ans Ende seiner  Möglichkeiten zu gehen, und eben dadurch verschwindet, wobei er einer  künstlichen Welt Platz macht, die ihn vertreibt – durch eine  Integrationsleistung, die in gewisser Weise das höchste Stadium des  Materialismus darstellt. (Marx: das idealistische Stadium der  Interpretation und die unaufhaltsame Transformation, die zu einer Welt  ohne uns führt.) Diese Welt ist vollkommen objektiv, da es in ihr  niemanden mehr gibt, um sie zu sehen. Rein operational geworden, besteht  kein Bedarf mehr für unsere Vorstellung, und im übrigen ist ein  Vorstellen ja gar nicht mehr möglich.
(...)
 
   
   
   
  