LI 86, Herbst 2009
Berliner Utopie
Von Fortschritt und Illusionen und einem niemals ausgeträumte TraumElementardaten
Genre: Erinnerung, Essay, Stadtporträt
Übersetzung: Aus dem Französischen von Inés Koebel
Textauszug
Bisweilen, vor allem im Frühling, lausche ich dem Hämmern des Vogels,  der in den Kastanien im Hof unter der Rinde der alten Bäume nach Würmern  sucht. Sie kommen mir immer wie wackere, unermüdliche Arbeiter vor,  diese Vögel, die um des Überlebens willen Gefahr laufen, sich den  Schädel zu verletzen. Insbesondere der Rhythmus ihrer Hammerschläge läßt  mich aufhorchen, sie klingen wie eine Maschinenpistole mit einem etwas  kleinen Magazin. Beharrlich sich wiederholende kurze Feuerstöße, die in  mir die Erinnerung an die übergroßen Spechte auf der Berliner Mauer  wachrufen. Das Lärmen des Vogels in den Kastanien bringt mir jenes ferne  Echo zurück, das ich zum ersten Mal im März 1990 vernahm. Bei meinem  ersten Besuch in der ehemals deutschen Hauptstadt, die vielleicht wieder  Hauptstadt werden würde, habe ich mich oft gefragt: Was eigentlich  suchen diese unermüdlichen Arbeiter auf der Demarkationslinie dieser  beiden Städte? Und ich glaubte zu verstehen oder hoffte zumindest, daß  sie unter den Ruinen der Welt von Jalta nach einem Stückchen konkreter  Utopie suchten. Ich hätte ebenfalls gern zum Hammer gegriffen und diese  steinerne Trennwand zwischen zwei Welten erklommen, die auf der einen  wie auf der anderen Seite auch die meinen waren. Ich stamme aus einer  Familie von Schmieden. Sie stellten Kupferkessel her. Daher konnte ich  von Kindesbeinen an mit dem Hammer umgehen. Beseelt vom Wunsch, bei der  Zerstörung der alten trennenden Welt mitzuhelfen, begann ich meine  rechte Hand, als hielte ich in ihr noch jenes Werkzeug meiner fernen  slowenischen Kindheit, zu bewegen und die stets gleichbleibenden  Bewegungen meines Vaters und meiner Onkel nachzuahmen. Und mir schien  diese Arbeit so vertraut, daß es mir vorkam, als befände auch ich mich  seit langem auf einer der vielen Mauern des heutigen Europa.
Als  im ehemaligen Jugoslawien geborener Slowene kannte ich die Grenze, die  quer durch Gorica verlief – eine einstmals vorwiegend slowenische Stadt,  die zunehmend mehrheitlich italienisch wird. Auch diese Stadt war  zweigeteilt, in ein italienisches Gorizia und in ein jugoslawisches,  genauer: slowenisches Nova Gorica. Von Kindesbeinen an hörte ich  Geschichten von Leuten, die über die Demarkationslinie flüchteten, um  sich im Westen ihr tägliches Brot zu beschaffen. Vielleicht habe ich  deshalb die Tragödie Deutschlands begriffen und was es für das Land  bedeutete, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, ebenso wie seine  Hauptstadt Berlin zweigeteilt zu werden. Allerdings habe ich noch  weitere Teilungen dieser Art miterleben müssen, und selbst meine erste  Reise nach Frankreich war vor allem eine „Grenzerfahrung“. Vielleicht  ist diese Erfahrung beim Passieren der Grenze zwischen der Schweiz und  Frankreich in Vallorbe, die sich mir unauslöschlich einprägte, der  Grund, weshalb ich in Paris nie wirklich habe heimisch werden können.  Die Totenstille unter den Reisenden aus dem ehemaligen Jugoslawien, die  wie ich angstvoll auf jenes „Ihre Aufenthaltserlaubnis bitte!“  der französischen Grenzbeamten warteten, ist mir unvergeßlich.
Meine  erste Begegnung mit Berlin verlief wohl deshalb in so vertrauten  Bahnen, weil sie mich an mein eigenes Schicksal erinnerte, an Erlebtes  und an meine Ängste beim Passieren einer Grenze. Das Gesicht der  deutschen Hauptstadt, die im März 1990 neu Geschichte schrieb und sich  bewußt wurde, daß sie die Vergangenheit ein für allemal hinter sich  gelassen hatte, zeigte sich mir heiter. Ich habe den Fall der Mauer fast  unmittelbar miterlebt, mein Freund Walter Aue rief mich in Paris an und  schrie begeistert ins Telefon: „Wir können jetzt rüber in den  Osten!“ Ostdeutschland war auch Teil meines Schülerschicksals  gewesen. Von dort kam meine erste Braille-Schreibmaschine, ebenso mein  erster plastischer Weltatlas. Ich war sehr glücklich in Berlin bei dem  Gedanken, daß auch ich jene Orte würde aufsuchen können, an denen meine  Landkarten entstanden waren und meine erste Schreibmaschine, der ich so  viel verdanke. Als ich zum ersten Mal die Grenze passierte, die Berlin  teilte, prüften die Beamten auf beiden Seiten meinen Paß eher  gewohnheitsmäßig als überzeugt, daß sie es mit einem suspekten  Emigranten zu tun hätten. Ja, an diesen europäischen Grenzen, die ich  auf meinen Reisen zwischen Paris und Slowenien so häufig habe überqueren  müssen, wurde ich oft als jemand angesehen, den es zu kontrollieren  galt, als ein Reisender, der sich dafür rechtfertigen mußte, warum er  zwischen der kommunistischen und der sogenannten freien Welt verkehrte.  Ungeachtet der politischen Lage, in der sich das zwischen zwei Blöcken  gefangene Jugoslawien befand, war ich wie alle anderen jugoslawischen  Staatsbürger mit dem Makel behaftet oder gar dem unverzeihlichen Fehler,  von anderswo zu sein. Sünder wider Willen und nichts sonst waren wir  für die Vertreter der westlichen Obrigkeit, die mich bis heute begleitet  haben und dies wohl bis ans Ende meiner Tage tun werden.
Die  Aufbruchsstimmung in jenem Berliner März ließ mich dies alles vergessen.  Mein Herz klammerte sich mit seiner ganzen vormals desillusionierten  Kraft begeistert an eine neue, durch die Zerstörung der Schandmauer  bestärkte Illusion. Im allgemeinen Glückstaumel war ich wie jedermann  überzeugt, daß die Hämmer der Mauerspechte die Wiege eines neuen Europa  zum Schwingen brachten. In diesen Traum versunken, sah ich Zeus vor mir;  er hatte sich in einen Stier verwandelt, um die schöne Europa zu  entführen. Zweifellos eine hübsche Legende, die in diesen Berliner Tagen  einen neuen Sinn bekam. Anders als im griechischen Mythos standen sich  diesmal zwei Stiere gegenüber, der eine aus dem Osten, der andere aus  dem Westen, und stritten artig um das Privileg, die neue, aus den Fängen  der Vergangenheit befreite Europa auf ihrem Rücken tragen zu dürfen.  Damals wußte ich noch nicht, daß diese großherzige Begegnung der zwei  Teile Europas in eine Enttäuschung münden würde, wie ich sie in diesen  Stunden des historischen Hochgefühls nie vermutet hätte. Auch wenn  Berlin noch nicht die Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands war,  wußte ich doch, daß die sowjetischen Soldaten, die im Osten noch Wache  hielten, bald abziehen würden. Schon damals sahen sie großzügig über  meine Blitzlichter hinweg, die sie blendeten, und ließen sich stoisch  photographieren. Später sprachen sie mich sogar an, da sie mir einiges  von dem Material, das sie nicht mehr benötigten, verkaufen wollten.  Vielleicht waren es gar nicht sie selbst, sondern Zwischenhändler, die  mir Helme und Abzeichen anboten. Manche versuchten es auch mit Uniformen  und Feldstechern, die vormals der sowjetischen Flotte im Baltikum  gehört hatten. Ich bedaure, keines dieser „weitsichtigen“ Geräte gekauft  zu haben. Vielleicht hätte es mir ermöglicht, ein wenig weiter zu  sehen, über die, wie Malraux sagte, lyrische Illusion hinaus, der ich  mich mit Leib und Seele hingab. Das Rad der Geschichte, das sich direkt  vor der Berliner Mauer unaufhaltsam in Bewegung gesetzt hatte, hatte  mich in seinen Bann gezogen.
(...)
 
   
   
   
  