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Cover Lettre International 89, Leiko Ikemura
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LI 89, Sommer 2010

Gehirne im Tank

Berlusconis Erfolgsmaschinerie der simplen politischen Leidenschaften

Endlich ist ein italienischer Politiker fast überall auf der Welt bekannt! Jahrzehntelang konnte mir im Ausland so gut wie niemand den Namen eines führenden Politikers auf unserer Halbinsel nennen – einmal abgesehen von Cicciolina, dem in den achtziger Jahren zur Abgeordneten gewählten Pornosternchen. Aber die ganze Welt kennt heute jene Skandale und Fauxpas, deren Held Silvio Berlusconi ist. Er ist auf dem Planeten so berühmt, wie es Mussolini seinerzeit war. Die britische Wochenzeitschrift Economist hat Berlusconi mehr als einmal auf die Titelseite gebracht und ihm Artikel gewidmet, in denen man ihm vorwarf, er sei für die Regierung eines so bedeutenden Landes wie Italien ungeeignet. Und der Economist ist gewiß kein kommunistisches Blatt.

 

Künftige Historiker werden von Italien zwischen 1994 und irgendwann (denn eines Tages wird auch Silvio so wie wir alle sterben müssen) als der „Ära Berlusconi“ sprechen, nach dem Beispiel des faschistischen ventennio (1922 bis 1945) und der durchgehend von den Christdemokraten regierten Ersten Republik (1947 bis 1993). Nun hat Berlusconi gar nicht ununterbrochen regiert, in den letzten 16 Jahren stand er nur sieben Jahre lang an der Spitze der Regierung. Aber wer sich ihm entgegenstellte, hat sich irgendwie berlusconisieren müssen.

 

Viele in Italien hassen Berlusconi. (Die Mehrheit haßt ihn nicht.) Haß, unverhüllter Haß ist das passende Wort. Von denen, die ihn hassen, gaben sich viele der trügerischen Hoffnung hin, der Klatsch, mit dem ihn ein Teil der Presse eine Zeitlang verfolgte – sein Kontakt zu minderjährigen Mädchen, die lockeren Feste mit käuflichen Damen in seiner Villa usw. – würde ihm den Todesstoß versetzen. Das ist nicht geschehen, weshalb die Soziologen eine harte Nuß zu knacken haben: Warum belohnen Ultrakatholiken und strenge Konservative mit ihrer Wahlstimme die Partei eines Mannes, der sich als Hurenbock geriert? Berlusconi fasziniert viele Italiener aber eben deswegen, weil er öffentlich kundtut: „Ich genieße!“ „Ich bin für euch das Vorbild eines genießenden Subjekts!“ Hätten es diese Skandale geschafft, ihn aus dem Amt zu hieven, dann hätten Klatsch und die von seinen Festivitäten heimlich geschossenen Aufnahmen erreicht, was Tausenden von superklugen Büchern und Artikeln der Kritik an Berlusconi fast zwanzig Jahre lang nicht gelungen ist. Die Linke lernt mit Verspätung, wie man mit Hilfe der Medien Tiefschläge austeilt – Berlusconi beherrscht das meisterhaft. Letztlich könnte die Linke diese Schlacht durchaus gewinnen, sie würde dabei aber ihren ethischen Krieg gegen den neuen Typus von Macht verlieren.

 

Diesen neuen Machttypus nenne ich Mediokratie. Was sowohl Medienherrschaft als auch Herrschaft der Mittelmäßigkeit bedeuten kann.

 

Je weiter man vom Norden in den Süden vordringt, desto mehr herrscht in Italien eine tiefe, stillschweigende Bewunderung für den, der auf seinen Vorteil bedacht ist. Die Italiener stellen sich vor einem Schalter nie der Reihe nach an. Wer dreist genug ist, drängelt sich vor, auch wenn er später gekommen ist als die anderen, und häufig wird das hingenommen. Wer keine Steuern zahlt, wird anerkannt und beneidet. Ein Amerikaner, dem ein Händler keine Quittung ausstellt, denkt sofort: „Wenn der keine Steuern zahlt, wird der Staat versuchen, zu Geld zu kommen, indem er meine Steuern erhöht. Der Mann schadet mir persönlich.“ Doch selbst ein italienischer Angestellter, der seine Abgaben auf Heller und Pfennig bezahlt, findet einen Steuerhinterzieher bewundernswert. Bewundernswerte 27 Prozent der Italiener zahlen keine Steuern, weil sie beim Finanzamt ein Null-Einkommen deklarieren.

 

Omertà nennen wir eine gewisse verbreitete Toleranz gegenüber der organisierten Kriminalität oder die Komplizenschaft damit – mit der sizilianischen Mafia, der kampanischen Camorra, der kalabresischen ’Ndrangheta, der apulischen Sacra Corona usw. Die omertà ist indes nicht nur durch Angst erzwungen: Im Grunde bewundern Italiener die Arroganz und Dreistigkeit von Betrügern, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und sonst nichts. Italien schlägt sämtliche Weltrekorde hinsichtlich der Dimension der organisierten Kriminalität, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt1: Die italienischen Mafias setzen 112 Milliarden Dollar um. Welt-weit sind wir die besten in Kriminalität, Mode, Fußball, und wir haben das beste Olivenöl. Diese italienische Vorrangstellung, was das Verbrechen anbelangt, gehört zu der in jedem Italiener tief verwurzelten Abneigung gegen Staat und Gesetz. Ennio Flaiano, ein populärer Schriftsteller und Drehbuchautor von Fellinis besten Filmen, schrieb: „Italien treibt ein maßloses Bedürfnis nach Unrecht um.“

 

Ein ausländischer Journalist fragte Mussolini, damals noch nicht an der Regierung, nach dem Programm der Faschisten. Mussolini antwortete: „Das Regierungsprogramm des Faschismus ist sehr klar: Wir wollen an die Regierung.“ Bei den Wahlen 1924 erhielt Mussolinis Liste 61,3 Prozent der Stimmen und garantierte ihm damit die Macht; die Linksopposition bekam damals 35 Prozent der Stimmen, etwa soviel wie heute. Auch Berlusconis Programm ist sehr klar: Er möchte um jeden Preis an der Macht bleiben.

 

Hat Berlusconi schlecht regiert, oder regiert er schlecht? Das hängt vom Standpunkt ab. Ihm ist es wichtig, unbedingt an der Regierung zu bleiben, weil er „populär“ ist. Würden die Umfragen ihm nahelegen, daß die Italiener den Sozialismus wollen, er zögerte nicht, sozialistische Ziele auf sein Banner zu schreiben. Würde sich herausstellen, daß die Mehrheit der Italiener die Juden haßt, würde er die Juden verfolgen. Viele Italiener vergöttern ihn wegen seiner ungeschminkten Gier nach Geld und Macht geradezu, so wie sie Leute bewundern, die als letzte an den Schalter kommen, sich an den anderen vorbeidrängeln und vorne anstellen.

 

(...)

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