LI 86, Herbst 2009
Mythos Berlin
1989 / 2009 - Zur Weltvergessenheit einer GenerationElementardaten
Textauszug
Berlin, das ist eine Stadt der schweren Ladungen, eine Stadt, in der  man Geschichte mit der Atemluft einsaugt. Mit seiner wechselvollen  Geschichte aus Größenwahn und Katastrophen, Euphorie und Katzenjammer  bleibt Berlin immer auf der Suche nach sich selbst, nach Identität, nach  besseren Zeiten, an die man anknüpfen kann. Mythos Berlin hieß eine  große Ausstellung kurz vor dem Mauerfall in Westberlin. Und nach der  Wende labte man sich ausgiebig am üppigen Leib des eigenen Mythos.  Jahrelang propagierte man, Berlin sei die „Mitte Europas“, heute  erklären Politiker und Werbestrategen Berlin zur „Stadt der kreativen  Klasse“ oder zur „Stadt des Wissens“. In regelmäßigen Abständen werden  rhetorische Großvokabeln erfunden und wie Luftblasen in den Äther  entlassen. Um den lange zelebrierten Metaphernkern der Mitte haben sich  zahlreiche kompatible Submetaphern angelagert, die der „Drehscheibe“,  der „Schnittstelle“, des „Begegnungsorts“ von Ost und West.
Der  Mythos von „Europas Mitte“, der nach dem Mauerfall 1989 aufkommt, ist  Ausdruck des Versuchs, eine Ideologie für die politische Klasse, für  Politiker, Lobbyisten und Medien zu schaffen. Es geht immer um  rhetorische Strategien bis zur Formel: Berlin ist arm, aber sexy. Diese  verhindern, daß Menschen sich mit dem befassen, was tatsächlich  geschieht. In dem Film Überall Osten über Westberlin führen alle  Himmelsrichtungen nach Osten, wohin man auch strebt. Das war die alte  Lage. Heute muß man sich fragen, welche Rolle Berlin in Europa,  innerhalb Deutschlands wirklich einnimmt. Die Träume von der  emphatischen Begegnung des Ostens mit dem Westen sind ausgeträumt. Die  alten Verknüpfungen gibt es nicht mehr. Für die Tschechen ist die  nächste westliche Stadt nicht mehr Berlin, sondern man fliegt direkt  nach New York oder London. Oder fährt nach Wien.
Die  Grundfigur der Formel „Berlin als Mitte Europas“ war die einer  Wiederholung, einer Wiederherstellung der zeitweilig verlorenen  Mittlerfunktion zwischen Ost und West, Paris und Petersburg. Man  suggeriert die Renaissance alter Verbindungen, einer geopolitischen  Position, einer politisch-historischen Topographie aus der  Vorkriegszeit, die sich erneut herstellen soll. Dazu paßten die früheren  Ausstellungen Paris–Berlin, Paris–Moskau, Berlin–New York. Berlin als  „Mitte Europas“ wurde von Politikern als Garantieformel dafür gebraucht,  daß Berlin seine historisch verbürgten politisch-geographischen Rechte  wieder übernehmen würde. Die Zukunft wurde aus der Vergangenheit  deduziert. Die Mitte als natürliches Gravitationszentrum bedeutet eine  apriorische Anziehungskraft, der man sich nicht entziehen kann. Die  Mitte-Suggestivität funktionierte auch deshalb, weil sie so gut zu  Berlins Geltungsbedürfnis paßte. Die Wunden der geschundenen Insulaner  brauchten den Balsam der Anerkennung ihrer Opferrolle. Sie reklamierten,  für die privilegierten Westdeutschen die Stadt trotz aller  Schwierigkeiten am Leben gehalten zu haben, und fanden eine Belohnung  nur angemessen. Diesen geschundenen Seelen wurde nun das Versprechen  zuteil, aus einer marginalen Lebenslage in den europäischen  Lebensmittelpunkt zu rücken – endlich schauten die Völker der Welt auf  diese Stadt!
Es ging auch um die Anerkennung der Hauptstadt  Deutschlands als Zentrum Europas, weil diese Position durch die  Osterweiterung der EU als prädestiniert galt für eine Mittlerfunktion.  Doch der Zweite Weltkrieg und die Teilung Europas hatten eine  Verschiebung aller Zentren nach Westen zur Folge. Deutsch war früher die  Kultursprache Osteuropas, heute ist es Englisch. Der alte Traum, wieder  stark nach Osteuropa auszustrahlen, hat sich aufgrund der historischen  Transformationen verflüchtigt.
Wenn Berlin seine Rolle als  „Mitte“ ernst genommen hätte, hätte es dann nicht versuchen müssen, neue  Verkehrsverbindungen, Tauschprozesse, Logistiken, Kontakte,  Infrastrukturen forciert nach Osten zu entwickeln? Bis heute gibt es  doch nicht einmal das Projekt eines Hochgeschwindigkeitszugs nach  Warschau oder Prag.
Wenn man an alte Traditionslinien von  Berlin über Wien nach Osteuropa denkt, an Elias Canetti, der die Donau  noch als kulturellen Verbindungsfluß beschreibt (er selbst kommt aus  Bulgarien, Teile der Familie leben in Frankreich, in Wien oder London),  muß man sich eingestehen, daß es solche Familienverzweigungen über  Europas Grenzen hinweg kaum mehr gibt. Heute gibt es informelle  Verbindungen zwischen Menschen, die in London, Paris oder Berlin  arbeiten und sich für Entwicklungen in Kunst, Musik und Clubkultur  interessieren. Hierbei spielt Berlin eine Rolle. An die Stelle der  „Mitte“ treten andere Begegnungsweisen und Beziehungsformen, die sich  mal konzentrieren und verdichten, mal auflösen und weiterwandern – ein  fließendes System von Verbindungen, das eine Zeitlang eine Art von  Mythos generieren kann: Jeder muß mal da gewesen sein, und nach einigen  Jahren ist alles wieder verschwunden. Die Bareuphorie, die Club- und  Tanzkulturen kommunizieren über Flyer, Internet, SMS-Mobs, temporäre  Agglomerationen; das Bild der „Mitte“ ist dagegen im 19. Jahrhundert  angesiedelt. Diese neue Art flüchtiger Vernetzung und temporärer  Konzentration früh in den Blick zu nehmen wäre spannend gewesen. Es hat  sich ja etwas getan im Bereich der Kunst, der Musik, der Clubkultur,  auch der Architektur. An den Rändern gibt es Verdichtungen, die  hochinteressant sind, aber das hat nichts zu tun mit der starken  Vorstellung einer kulturellen Metropole, die zusammenhängt mit  wirtschaftlicher und politischer Macht.
Westberlin hatte vor  der Einheit, um seinen logistischen Nachteilen als Insel  entgegenzuwirken, Attraktionen und Angebote, um Menschen anzuziehen und  zu binden. Liberalität bei der politischen Elite, Subventionspolitik für  Investitionen und Arbeitskräfte, die Instrumentalisierung des  öffentlichen Dienstes zur Absorption von Arbeitsuchenden: Positionen  dort waren zumeist doppelt besetzt. Junge Männer mit Wohnsitz in Berlin  waren vom Wehrdienst befreit; die Schwulenszene entfaltete ihre  Anziehungskraft, und es gab eine Nachtkultur ohne Polizeistunde. In  Berlin waren Sachen möglich, die es woanders nicht gab. Berlin hat die  angezogen, denen ihre Herkunftsorte zu eng, zu spießig, zu kontrolliert  waren, die frei sein wollten und glaubten, in Berlin endlich die freie  Luft der einzigen deutschen Weltstadt atmen zu können.
In  diesem Milieu entwickelte sich die Idee einer Revolutionierung des  Subjekts, einer Wendung nach Innen. Es war klar: Die Stadt ist politisch  und ökonomisch bedeutungslos und alimentiert. Die Veränderung fand in  den Beziehungen statt, in Liebesbeziehungen, erotischen Beziehungen,  Eltern-Kind-Beziehungen; man befaßte sich mit der Innenansicht des  Lebens, aber nicht im romantischen, sondern im gesellschaftspolitischen  Sinne. Das war umwälzend, gerade für Minoritäten, die hier ziemlich  unbehelligt leben konnten. Damit taucht in dem skurrilen Berlin eine  neue Form von menschlichen Verbindungen auf: Beziehungsarbeit. Und  Beziehungsarbeit kann gleichwertig neben die Erwerbstätigkeit treten.
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