Direkt zum Inhalt
Lettre International 150
Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 150, Herbst 2025

Geister, die man rief

Kleine Geschichte des Kapitalismus ohne protestantische Ethik

(…)

Auch Max Weber, der den Geist des Kapitalismus auf die protestantische Ethik zurückführen will, bietet einen nur sehr begrenzten Erkenntnisgewinn. Denn so unzweifelhaft es ist, daß sich im protestantischen Weltbild so etwas wie eine kapitalistische, psychologische Buchhaltung eingehaust hat, vermag diese Zuschreibung nicht zu erklären, warum Luther so vehement gegen den Zins anpredigt und sich dabei in einen vagierenden Antisemitismus hineinsteigert. Schon zwei, drei Argumente sollten ausreichen, um die Webersche Fixierung auf den Protestantismus zu entkräften. Daß Florenz bereits im Jahr 1427 mit dem catasto eine allgemeine Steuerpflicht einführte – aus dem schlichten Grund, daß man sich in einem Krieg mit Mailand befand und britische Söldner anzuheuern beabsichtigte (eine Praxis, die schon im 14. Jahrhundert gängig war) –, daß die Kirche das Purgatorium ersann, um den Geldwechslern die Gelegenheit zu bieten, daselbst ihre Sünden abzuarbeiten; daß schließlich mit dem Gnadenschatz des Hugo von St. Cher der Ablaßhandel anhob und die Kirche daraufhin mit den erstaunlichsten Finanzinnovationen aufwartete – all dies zeigt, daß der Geist des Kapitalismus, als psychologische Buchhaltung, bereits im 12., 13. Jahrhundert heimisch war, ja, daß er die herrschenden Institutionen in ein nur mühsam cachiertes, protokapitalistisches Gewand eingehüllt hatte.

(…)

Die Tempel-AG

Wo nun nimmt diese Geschichte jene Wendung, die man genuin kapitalistisch nennen könnte? Ein erstes Symptom dieser geistigen Landnahme schlägt sich darin nieder, daß der Zisterzienserorden zahllose Filiationen hervorbringt, welche allesamt nach dem Vorbild Fontenays konzipiert sind. Folglich verwandelt sich das paradisus claustralis zu einer Korporation, die von Italien und Spanien bis nach Skandinavien reicht. Darüber hinaus breiten sich die Zisterzienser, in missionarischer Tätigkeit, auch in Preußen, Polen, Lettland und Litauen aus. Ein weiterer Coup, welcher die Frage des Geldes in den Vordergrund bringt, ist die Gründung des Templerordens. Folgt auch dieser den Regeln des Mutterordens, ist seine Funktion eindeutig monetärer Natur: Als Begleiter der Kreuzzüge, welche die Finanzierung des Unternehmens sichern sollen, treten die Mönchsoldaten zugleich als Logistiker und Finanziers in Erscheinung. Lange bevor die Wucherer der italienische Städten von ihren banchi in respektable Gebäude umziehen konnte, verfügte der Templerorden über ein dicht gespanntes Netz von Niederlassungen, könnte man nachgerade von einem Temple Incorporated sprechen.7 Paradoxerweise ruft der unermeßliche Erfolg der Bruderschaft die weltlichen Mächte auf den Plan – und führt dazu, daß das Papsttum nach Avignon zwangsversetzt wird. Denn als sich der Templerorden nach dem Ende der Kreuzzüge in Paris niederläßt, fällt der begierige Blick des stets klammen, von Geldnöten verfolgten französischen Königs auf den Goldschatz des Ordens. Also bringt Philippe le Bel den Papst in seine Gewalt, konstruiert mit seiner Hilfe eine Anklage wegen Simonie und läßt die Führer des Ordens auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Wenn dieser Komplott, der die verschwörungstheoretisch empfänglichen Geister bis heute beschäftigt, eines lehrt, so daß das Geld zum entscheidenden Triebwerk des Geschehens geworden ist, wohingegen die geistige Welt sich in eine Potemkinsche Kulissenlandschaft verwandelt.

(…)

Die großartigste, zugleich fragwürdigste Erfindung, auf welche die Kirchenoberen verfielen, war jedoch die Erfindung des Fegefeuers selbst – das nichts Geringeres als einen Umbau des Himmels darstellte. In gewisser Hinsicht war auch diese Maßnahme eine Verlegenheitslösung. So wie man sich mit dem Räderwerkautomaten nur dadurch hatte anfreunden können, daß man (wie Nicole Oresme es in seinem Gottesbeweis demonstrierte) den lieben Gott zum Uhrmacher umgeschult hatte, verfolgte dieses zwischen Himmel und Hölle eingezogene Zwischengeschoss vor allem den Zweck, sich mit der Unhintergehbarkeit des schnöden Mammons anzufreunden. Und um auch den Wucherern den Weg ins Himmelreich zu erlauben (if you can’t beat them, join them), verfiel man auf den Gedanken, daß der Wucherer seine Sünden im Purgatorium abarbeiten könne. Wenn hier das Clairvauxsche Diktum „Arbeit ist Gebet“ eine neue, unverhoffte Qualität annimmt – so ist dies ein klarer Beleg dafür, daß aus der ursprünglichen Freiheitsverheißung eine Verpflichtung, nein, mehr noch: eine Selbstverständlichkeit geworden ist.

(…)

Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 151 erscheint Mitte Dezember 2025.