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Cover Lettre International, Valérie Favre
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Inhaltsverzeichnis

LI 115, Winter 2016

Geisterdämmerung

Zum Verschwinden des Intellektuellen im Posthistoire

Der Intellektuelle hat sich aus der Öffentlichkeit verabschiedet. Lautlos und ohne groß Aufhebens von seinem Verschwinden zu machen. Warum? Mag sein, er war sich zu fein, mag sein, ihm war das Schicksal von Kafkas Hungerkünstler beschieden, der just in dem Maße, in dem er seine Hungerkunst perfektionierte, die Aufmerksamkeit seines Publikums einbüßte. Freilich hat das Verschwinden des Intellektuellen den Diskurs keineswegs verstummen lassen, im Gegenteil. Wie in Kafkas Parabel der Hungerkünstler durch ein gefräßiges Raubtier ersetzt wird, haben sich Lautsprecher seines Postens bemächtigt, sind die Manieren rabiater, die Gedankenfiguren grobschlächtiger geworden. Man muß sich nur der Vorhölle der Talkshows aussetzen, um der Verwilderung der öffentlichen Rede beizuwohnen. Hier, wo das Argument durch Lautstärke ersetzt, die Aporie vom moralischen Raunen übertönt wird, verwandelt sich das Fremdwort zur Fremde, verschwindet der Raum zwischen den Zeilen. Kein Zweifel, keine Ironie, keine Ambivalenz. Die öffentliche Meinung giert nach Fleisch: The Real Thing. Und weil der Schlund dieses Monsters unersättlich ist, stürzen all jene Experten herbei, die um eine saftige Rezeptur nie verlegen sind. Wie die Leber an ihren Aufgaben wächst, nährt sich der Experte an der Katastrophe. Wird sie größer, avanciert er zum Dauergast, dessen Präsenz als Garant dafür gilt, daß man den Dingen wird beikommen können. Wie? Durchgreifend, mit einem heftigen Schlag auf den Tisch. Theorie? Zeitvergeudung, ebenso die Frage, wie es überhaupt zur Katastrophe hat kommen können. Jedoch hat dieses intellektuelle Heimwerkerwesen seinen Preis. Der Verlust des Geschichtshorizonts läßt die Diskurse monothematisch werden. Griechenland. Die Flüchtlinge. Aleppo. Und die Begriffslosigkeit wiederum schürt die Erregung. Je näher die Kamera an den Ort des Geschehens heranzoomt, desto kürzer die Atmung: Ja, hier, Skandal, Katastrophe! Jedes Wort ein Ausrufezeichen, Interpunktion, Stoßgebet. Und weil die Welt immer unleserlicher wird, gilt es andererseits, das Katastrophische der Katastrophe in Watte zu hüllen. Dem Problemlöser springt ein Problemverleugner zur Seite, ein Wortakrobat, der mit dem entsprechenden wording die Realitäten in Luft aufzulösen vermag. In verdauliche Häppchen verpackt, wird die Realität selbst suspendiert. Was bleibt, ist ein Imbroglio von Meinungen, in dem letztlich Dauerredner und Filibuster den Ton angeben. (…) In diesem Sinn ist das gesprochene Wort, nein, ist die televisionäre Performance Beleg für eine geistige Abdichtungskunst, einen rhetorischen Abwehrzauber, bei dem die eigene Position von den Anfeindungen der dreckigen Realität verschont bleibt. Daß selbst die Feuilletonredaktionen das Treiben der Talkshows emsig begleiten, ja, daß diese Rezensionen eine verdächtige Nähe zur Sportberichterstattung aufweisen, belegt, daß sich hier ein Athletenwesen etabliert hat, das eine merkwürdige Nähe zu den Freakshows der Panoptiken aufweist. Die Vorstellung, daß es bei diesem Treiben ernstlich um Aufklärung geht, ist so abwegig wie die Vorstellung, daß sich die Wirklichkeit den Appellen fügt, die aus den Fernsehstudios in die Wildnis hinausschallen.“

(…)

Als Francis Fukuyama im Jahr 1989 das „Ende der Geschichte“ ausrief, war das Ende jener geschichtsphilosophischen Fortschrittsmaschine eingeläutet, die das ständisch-feudale Europa bereits tiefgreifend modernisiert und bei der stets eine kleine Avantgarde Ton und Richtung vorgegeben hatte. In diesem Sinn war der Intellektuelle die Verkörperung jenes Fortschrittsgespenstes, das schon das Kommunistische Manifest hatte aufmarschieren lassen, Teil einer sozial freischwebenden Schicht, deren Kämpfe jenes Rumoren vorwegnahmen, das mit einiger Zeitverzögerung auch die Massen erfaßte. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß in dem Augenblick, da die Geschichtsphilosophie ihren Auftrag erfüllt hatte, mit anderen Worten: der Weltgeist sich zu Tode gesiegt hatte, auch sein Mundstück, der Intellektuelle, überflüssig erschien. Wo sich die Systemfrage nicht mehr stellt, statt dessen freibewegliche Subjekte ihre (in der Regel wirtschaftlichen) Interessen artikulieren und miteinander aushandeln können, gibt es keinen Dogmenstreit mehr, keine Notwendigkeit der ideologischen Zuspitzung, kein Welterklärungsbedürfnis. Statt dessen waltet ein Pragmatismus, wie ihn der grantelnde Altkanzler Helmut Schmidt mit dem Diktum an den Tag legte: „Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen.
Im Posthistoire werden die Visionäre durch Manager ersetzt, nehmen fleißige Arbeitsgruppen die Rolle der Gründerväter ein. Wo der religiöse Glutkern des Ideologen erkaltet, wandeln sich Glaubensfragen zu Verwaltungsprozeduren, kann der Weltgeist bestenfalls als Systemtheoretiker ein Unterkommen finden (in Gestalt eines Niklas Luhmann zum Beispiel, dem man kein Unrecht tut, wenn man ihn als einen „Hegel für Angestellte“ charakterisiert). Insofern bezeugt der Übergang der sozialen Systeme in den Selbstfahrermodus – ein Paradigmenwechsel, der bei Luhmann in Gestalt der „autopoietischen Systeme“ daherkommt –, daß die Gesellschaft nicht mehr von der heroischen Intervention abhängt, sondern daß hier Mechanismen am Werk sind, die sich nicht mehr par ordre du mufti kontrollieren lassen. Man könnte, wenn man wollte, von einer hinterrücks sich artikulierenden Intelligenz sprechen, einer informellen Herrschaftslogik, die auch unabhängig vom Welthorizont der Nutzer ihre Ansprüche geltend zu machen vermag. In jedem Fall aber begegnen wir einer Intelligenz, die des Intellektuellen nicht mehr bedarf.

(…)


Schriftkörper, elektrisiert

Aus einer kulturgeschichtlichen Warte betrachtet, liegt der tiefste Grund für den Bedeutungsverlust des Intellektuellen darin, daß wir einer Verwandlung unseres Schriftbegriffs beiwohnen, von der Alphabetschrift hin zur elektromagnetischen Schrift. Hebt dieser Prozeß bereits im 18. Jahrhundert an, begleitet er, als anschwellender Strom, den Aufstieg der modernen Massengesellschaft: Radio, Fernsehen, Telematik (was im übrigen schon Lenin erfaßte, als er proklamierte: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“). Nunmehr läßt sich alles, was elektrisiert werden kann, als Schriftzeichen auffassen: Die Schweißperle auf der Stirn, das unfreiwillige Erröten, der Impuls, der sich in der Zuckung des Zeigefingers entlädt, ganz zu schweigen von den Phänomenen, die sich dem menschlichen Sinnesapparat überhaupt entziehen: dem Tanz der Nanopartikel, den Positionsdaten eines Wals, den sensorischen Daten, welche die Sonde auf der Marsoberfläche zur Erde zurückfunkt.
Vor dem Prospekt dieser Welt ist der klassische Intellektuelle, der als Homme de Lettres einem buchstäblichen Weltbegriff huldigte, ein Auslaufmodell. Denn um das Enzephalogramm unseres Datenuniversums deuten zu können, bedarf es eines Blicks, der die sensorische Explosion der Schrift nachvollzieht, ja, der sich vor allem über die Totalabstraktion des binären Codes im klaren ist. Denn im Computer ist nichts, was es ist. Mag der Skeuomorphismus des Nutzer-Interfaces vorspiegeln, daß man eine Oberfläche aus Papier, Metall oder Holz vor sich hat, so ist all dies nur Schein: ein Buchstabe die Beschreibung eines Buchstabens, eine Zahl die Beschreibung einer Zahl, eine Maschine die Beschreibung einer Maschine. Um das eigentliche Element der Binärschrift zu erfassen, müßte man in die informatische Logik der Programmierung überwechseln – in jene Welt, in der es keinen Mangel, ja nicht einmal mehr einen Materialunterschied gibt, hat sich doch alles zu Elektrizität und zum reinen Datum aufgelöst. Insofern sind die Zeilen, zwischen denen der Schriftgelehrte zu lesen hätte, nicht mehr schwarz auf weiß auf einer Buchseite verzeichnet, sondern haben die Form eines Codes angenommen. Dabei erlebt nicht bloß die Deutung, sondern auch das Schreiben der Welt einen tiefgreifenden Wandel. Denn was immer informatisch gedacht werden kann, verwandelt sich, in die Notation der Maschine überführt, zu einer Tatsache: Gesagt, getan! Insofern entspricht die Programmierung genau dem, was dem Intellektuellen des 20. Jahrhunderts abverlangt wurde: eingreifendes Denken. Freilich: Da das Programm, als Teil des Arbeitsspeichers, immer auch in das Museum der Arbeit überführt werden kann, ist der Programmierer mit einem Häutungsvorgang konfrontiert: denn zum Programm geworden, läßt sich sein intellectus agens jederzeit von ihm ablösen und zum Gesellschaftsschrieb umfunktioniert werden. Mit dieser Expropriation wird Autorschaft, ja, wird ein Begriff personengebundener Souveränität selbst fragwürdig. Die Folge ist, daß sich der Individuumsbegriff auflöst und an seine Stelle das Dividuum tritt: derjenige, der sich mitteilt, ja, der sich allein in der Mitteilung, der Kommunikation mit seinesgleichen, erhält. Da dies ein über Jahrhunderte gehegtes Ideal konterkariert, kommt diese Umdeutung einer narzißtischen Demütigung gleich – ein Grund mehr, warum es den Intellektuellen die Sprache verschlägt.

(…)

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