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Inhaltsverzeichnis

LI 129, Sommer 2020

Logfiles der Unterwelt

Die andere Silk Road – Zum Aufstieg und Fall des Dread Pirate Roberts

Manchmal beginnt eine Geschichte früher, als ihren Protagonisten bewußt ist. Und manchmal ist sie schon zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hat (wie in der Freudschen Bemerkung über den jungen Mann, „der eine große Zukunft hinter sich hat“). Dann wieder gibt es Geschichten, die, aus Versatzstücken zusammengesetzt, merkwürdig unwirklich oder karnevalesk anmuten, wie ein Maskenball oder einer jener Treppenwitze der Geschichte, bei denen man sich fragt, ob sie den Aufwand einer Interpretation überhaupt lohnen.

Anfang der Geschichte
Wenn hier die Geschichte der Silk Road und ihres Gründers, des Dread Pirate Roberts, erzählt werden soll, so stellt die Entscheidung, in welchem Genre man sie ansiedelt, bereits eine Auslegung dar. Folgt man der Perspektive der Ankläger, so ist die Angelegenheit klar, begegnen wir hier einem „Eliot Ness der Cyberkriminalität“, der sich einer übermächtigen Verschwörung in den Weg gestellt hat und dem es gelungen ist, den Staatsfeind Nummer eins dingfest zu machen. Was für ein Sumpf! Ein Ebay für Drogen, mit Sternen und Kundenbesprechungen, Versand über FedEx! Wenn Suburbia, der Hort aller Tugend, von Drogen überschwemmt zu werden droht, verwundert es nicht, daß Stimmen laut werden, dies zu unterbinden. Sonderbar bloß, daß die lauteste einem Politiker gehört, der sich 1996 in der Diskussion des Glass-Steagall Acts als Befürworter der vollständigen Befreiung der Finanzmärkte bemerkbar gemacht hatte: Senator Charles „Chuck“ Schumer. Umgekehrt redet sein Gegenspieler wie ein Verwandter im Geiste. Wie Schumer preist auch der Dread Pirate Roberts die Vorzüge des freien Marktes, und weil dies nicht bloß auf Rhetorik, sondern auf tiefste Überzeugung zurückgeht, vermag er als Treuhänder dieser Ordnung, ja geradezu als politischer Visionär in Erscheinung zu treten – nur daß man es in diesem Falle nicht mit Devisen-, sondern mit Drogenhandel zu tun hat. Vertieft man sich in die Einzelheiten des Falles, verliert sich jede moralische Eindeutigkeit. Wie in einem Spiegelkabinett zersplittert das Bild, wachsen sich Körperglieder zu grotesk verformten Monstrositäten aus, beginnen den Menschen gleich mehrere Köpfe zu wachsen. Fair is foul and foul is fair. Wie soll man sich zurechtfinden, wenn das Mastermind der Verschwörung ein liebenswerter junger Mann ist, während umgekehrt staatliche Ermittler auftreten, deren kriminelle Energie alles in den Schatten stellt, was die vermeintlichen Übeltäter aushecken? Und weil sich alles immer weiter verknäult, wechseln die Rollen: Da wird erpreßt und gelogen, da werden Morde fingiert und Mordaufträge gegeben, und all dies trägt Züge eines durchgeknallten Computerspiels, bei dem die Anteilnahme aller Beteiligten schließlich auf den Gefühlswert eines Emoticons herabsinkt. Wie in der Geschichte des Chemielehrers, der sich zum bösen Drogenbaron wandelt, beginnt das Übel zu metastasieren – nur daß es nicht mehr einen einzelnen Menschen, sondern eine ganze Gesellschaft betrifft. Freilich: von alledem ist in dem Urteil, das die Richterin Katherine Forrest schließlich über die Geschichte gefällt hat, nichts mehr zu lesen. Hier behauptet sich eine Moral, die dem moralischen Dilemma dadurch ausweicht, daß sie den Feind gleich für immer wegsperrt, sein Verschwinden aber damit begründet, es müsse ein Präzedenzfall geschaffen werden. So wurde Ross Ulbricht zu einer doppelt lebenslangen Strafe verurteilt – nicht, weil er dieses oder jenes Verbrechen begangen, sondern weil er sich über das Gesetz gestellt hatte: „Klar ist, daß Sie als Dread Pirate Roberts der Kapitän des Schiffes waren und daß Sie sich Ihr eigenes Recht geschaffen haben. Das war Ihr Werk, und es sollte Ihr Vermächtnis werden.“ Was er getan habe, sei präzedenzlos – und dementsprechend müsse er (so die krause Logik) bestraft werden wie „jeder andere Drogendealer auch“.
    Folgt man der Anklage, ist der Fall überaus simpel: Ein junger, vielversprechender Mann errichtet eine Website, auf der Drogenhändler, geschützt durch die Anonymität des Tor-Browsers, aber auch der Bitcoin-Währung, gefahrlos ihre dunklen Geschäfte abwickeln können. Mag der junge Mann einer libertären Ideologie huldigen, ja, selbst eine wöchentliche Leserunde mit seinen Klienten abhalten, so können derlei Äußerungen als nichts weiter als die Camouflage handfester, materieller Interessen gelten – was sich in einem akkumulierten Bitcoin-Vermögen von umgerechnet 150 Millionen Dollar zeigt (wobei ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses Vermögens den Spekulationsgewinnen der Währung zuzuordnen ist). In dieser Lesart handelt es sich nicht nur um einen maliziösen Drogenbaron, sondern um einen Feind der öffentlichen Ordnung. Tatsächlich kann diese Lesart des Geschehens mit einigen Argumenten aufwarten: Logfiles der Plattform, die belegen, daß der Betreffende, in die Ecke gedrängt, auch zum Einsatz von Folter, ja selbst zu Exekutionen seiner Feinde bereit war. Nun ist bis heute keine Leiche aufgetaucht, ja, es stellte sich heraus, daß die Angebote, seine Feinde zu beseitigen, auf Aktivitäten korrupter DEA- und Secret-Service-Agenten zurückgingen.
    Nimmt man auf der anderen Seite die Reaktionen, welche die Verhaftung des Ross William Ulbricht begleiteten, so begegnet man: ungläubigem Erstaunen. Tatsächlich scheint die Geschichte geradezu ein Versehen. Keiner seiner Bekannten kann sich vorstellen, daß der junge Mann, der in einer öffentlichen Bibliothek festgenommen wurde, der Alleinherrscher jenes kriminellen Imperiums ist, das 2011 in einem Beitrag des Webmagazins Gawker erstmals Schlagzeilen machte. Hier wurde unter dem Titel: „The Underground Website Where You Can Buy Any Drug Imaginable“ einer schaurig-erregten Öffentlichkeit klargemacht, daß der Parallelwelt des Internets eine Unterwelt zugewachsen war, die wie eine Parodie auf Ebay, Amazon und Konsorten anmutete – und als deren Propagandist ein gewisser Dread Pirate Roberts auftrat, eine Mischung aus Drogenbaron und politischem Untergrundkämpfer. Freilich: dieses Bild will mit jenem neunundzwanzigjährigen jungen Mann, der im Juli 2013 in San Francisco ein Zimmer anmieten will, nicht zusammengehen. So berichtet der Mitbewohner, der zwei Monate mit ihm zusammengelebt hat, von einem Wohnungsgenossen, der sich von all den hysterisierten Start-up-Kandidaten wohltuend unterschied, ein „techie“ gewiß, „aber er verhielt sich anders. Er schien eloquent, optimistisch, bodenständig. Er schien vertrauenswürdig.“ Statt sich über seine Erfolge auszulassen, redet der vermeintliche Bitcoin-Händler über die Vorzüge verschiedener Biersorten – und gibt zu verstehen, daß er seinen Facebook-Account gelöscht habe. Jemand, der kein Smartphone besitzt, auf seiner DeviantArt-Seite unter dem Titel „Natural Beauty“ ein Selbstporträt mit Tiger, Papageien und Blumen zeigt, eine harmlose Bleistiftzeichnung, die auch durch eine andere Zeichnung, ein psychedelisches Gruselbild à la William Blake, keine größere Tiefe gewinnt. Niemand, weder Freunde noch Bekannte, geschweige denn seine Familienangehörigen, können dem Erscheinungsbild des Ross William Ulbricht die sinistre Doppelexistenz des Dread Pirate Roberts zuordnen.
    Die Spuren, die man im Internet über ihn findet, zeigen einen gutaussehenden jungen Mann, der, manchmal bärtig, manchmal rasiert, am Strand oder zwischen Felsen posiert, mit Rucksack, Mutter, Schwester oder Freundin. Ein Naturbursche und Surfertyp, barfuß und mit nacktem Oberkörper. Man findet die Masterarbeit eines jungen Physikers, die sich unter dem Titel „Growth of EuO Thin Films by Molecular Beam Epitaxy“ mit einer nanotechnologischen Fragestellung beschäftigt. Ihr erster Satz lautet: „Das Material der Wahl definiert nicht selten eine historische Ära. Die Stein- und die Bronzezeit sind Belege dafür. In der modernen Zeit sind fast alle Materialien revolutioniert worden.“ Zwei, drei Berichte in einer Studienzeitung, in denen er sich zur Überregulierung des staatlichen Gesundheitswesens äußert und die Kräfte des freien Marktes zur Heilung anruft. Man findet das Video, das er mit seinem besten Freund geführt und auf die Storycorps-Seite hochgeladen hat, die sich der Oral History verschrieben hat. Redet der Freund, den es nach einer abgebrochenen Karriere als Möchtegern-Filmemacher nach San Francisco gezogen hat, darüber, daß er hier jene beiden Dinge zusammenzubringen sucht, die der Film offenkundig nicht hat ermöglichen können (Geld und Kreativität), hört er meistens zu und wird erst gesprächiger, als es um Frauen, gemeinsame Highschool-Erfahrungen oder die Zukunft des Silicon Valley geht. Das Gespräch hat etwas Naives, so wie jede adoleszente Selbstvergewisserung naiv und arglos sein muß – und niemand, wirklich kein einziger der wenigen Menschen, die es sich angeschaut haben, wird auf den Gedanken verfallen sein, daß sich hier der Tycoon eines Multimillionen-Dollar-Geschäfts zu Wort meldet. Allein seine etwas unbescheidene Antwort auf die Frage, wo er sich in zwanzig Jahren sehe (bis dahin wolle er einen substantiellen und positiven Beitrag für die Zukunft der Menschheit geleistet haben), läßt durchblicken, daß man es hier nicht mit einem lässigen Slacker, sondern mit einem durchaus ehrgeizigen jungen Mann zu tun hat. Diese andere Seite jedoch schlägt sich allein in seinem LinkedIn-Eintrag3 durch, in dem er die Verlagerung seiner Interessen begründet, von der Werkstofftechnik und der Kristallographie hin zum freien Unternehmertum: „Jetzt haben sich meine Ziele verschoben. Ich möchte die ökonomische Theorie als Mittel einsetzen, um den Gebrauch von Zwang und Aggression unter den Menschen abzuschaffen. So wie die Sklaverei fast überall abgeschafft worden ist, so glaube ich, daß Gewalt, Zwang und alle Formen der Machtausübung eines Menschen über einen anderen an ihr Ende gekommen sind. Der weitverbreitetste und systematische Einsatz von Gewalt findet auf seiten der Institutionen und der Regierung statt, und genau hier setze ich an. Die beste Art und Weise, eine Regierung zu verändern, besteht darin, die Köpfe der Regierten zu verändern. Zu diesem Zweck arbeite ich an einer ökonomischen Simulation, um Menschen eine Erfahrung erster Hand zu vermitteln, wie es wäre, in einer Welt ohne systemische Gewalt zu leben.“ Folgt man der dürren Vita seines LinkedIn-Profils, so ist dieses ominöse Projekt die Fortsetzung einer Unternehmung namens Good Wagon Books, die der junge Mann in einem Garagenkomplex initiiert, oder genauer: von seinem Nachbarn übernommen hat. Allerdings weisen weder das Geschäftsmodell noch das Ziel dieser Unternehmung auf ein besonders ausgeprägtes Gewinnstreben hin, handelt es sich doch um eine eher nachbarschaftlich organisierte Unternehmung, bei der Menschen ihre alten Bücher abstoßen und sie neuen Lesern zukommen lassen können. Obwohl „wir technisch betrachtet eine profitorientierte Gesellschaft sind, machen wir keinen Profit, weil wir soviel an soziale Zwecke abgeben“. Wie, so lautet die Frage, die sich Familienangehörigen, Freunden und Bekannten des jungen Mannes stellen mußte, wie konnte dieser nur zum Drogenbaron und zum Staatsfeind mutieren?
    Mit dieser Frage fangen wir, wenn wir sie nicht unter Einkaufspreis beantworten wollen, wieder ganz von vorne an. Denn die Einsicht, die aus Ross Ulbricht den Schöpfer der Silk Road machen sollte (die zu Anfang noch „Underground Brokers“ heißen sollte), ist nicht aus der Biographie des jungen Mannes herzuleiten. Tatsächlich ist er weder Schurke noch Held, sondern vor allem Kind seiner Zeit, einer Zeit, die den Abgrund, der sich zwischen den Institutionen und der Technik aufgetan hat, nicht in ein zeitgemäßes Denken, geschweige denn in ein politisches Ordnungssystem hat überführen können. In dieser Geschichte ist der 1. Januar 1970 ein markantes Datum, nicht nur weil hier The Epoch, das Computerzeitalter beginnt, sondern weil zugleich klar wird, daß das Moment der globalen Vernetzung die absolute Vormacht der nationalstaatlichen Einheiten bricht. Das erste, markante Symptom des nahenden Sturms ist der Zusammenbruch von Bretton Woods. Denn damit war nicht nur die Ablösung vom Goldstandard und das Ende der monetären Nachkriegsordnung, sondern auch der Beginn der Globalisierung besiegelt: Fortan war das Kapital nicht mehr in den Kapitalen zu Hause, sondern verwandelte sich zu einem dematerialisierten Fließgleichgewicht, das von anonymen Finanzmärkten aufrechterhalten wurde. An dieser Zeitschwelle öffnet sich ein doppelter Raum: zum einen die Verheißung einer weltweiten Kommunikationsapparatur, zum andern die Vorstellung einer Weltwährung, die frei ist von marktverfälschenden Interventionen der Nationalstaaten. Mochten die Zeitgenossen die Aussicht auf eine grenzenlose, nie zuvor genossene Freiheit darin sehen, so ist die Macht, die sich hier Bahn bricht, von eher janusköpfiger Art. Gewiß verleiht sie den Marktteilnehmern eine nie zuvor gekannte Weltläufigkeit, auf der anderen Seite jedoch bringt sie all jene Mittel hervor, die wie eine Schreckenskammer des totalen Staates anmuten. Tatsächlich – und das unterscheidet sie vom Orwellschen Monster – ist die Logik dieser Macht strukturell janusköpfig, korrespondiert der digitalen Entgrenzung stets eine Entgrenzung auch ihres Mißbrauchs. Denn wenn jede Transaktion im digitalen Raum geloggt werden kann, so wird das Netz unweigerlich zu einer Falle jeder Privatheit – und es tut sich das Schreckensszenario des Verlustes aller bürgerlichen Freiheiten auf.

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