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Inhaltsverzeichnis

LI 138, Herbst 2022

Schein und Wahn

Gresham's Law, Limbo-Ökonomie und andere Diskurskatastrophen

(…)

In jedem Falle ist es eine Form des Selbstbetrugs, die Produktion einer gesellschaftlichen Scheinwirklichkeit nur als Verblendung zu begreifen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist jenes Phänomen, das die Ökonomen die „Geldillusion“ nennen – der Umstand, daß ein Stück bedrucktes Papier eine solch inständige Glaubensgewißheit evoziert, daß eine ganze Gesellschaft sich bereitwillig in das kollektive Werte- und Gedankenkorsett hüllt: In God we trust. Nun ist dieser Glaube keine Naturtatsache, sondern ein historisches Paradigma, das sich im Jahr 1693 mit der Bank of England, der ersten Zentralbank, materialisierte. Und insofern sich darüber der Leviathan erhebt, der Prototyp unserer Staatlichkeit, fallen Scheinproduktion und Gesellschaftsfundament in eins. Speist die Scheinproduktion die Aura der Macht, besitzt der Begriff noch eine weitere Bedeutung. Denn nachdem die Münze aus Edelmetall Glaubwürdigkeit erlangt hatte, ließ sie sich durch Assignaten ersetzen, durch bedrucktes Papier, das keinerlei Substanzwert besitzt – und nur durch die kollektive Zuschreibung einen Nennwert geltend machen kann. Jede Banknote ist, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, Ausdruck der Scheinproduktion. In jedem Falle ist, was wir „Realitätsprinzip“ nennen, eine kollektive Verabredung, die nur Geltung besitzt, weil alle daran glauben. Mag fortan jedermann auf Kredit leben, so ist die Aufrechterhaltung dieses Glaubens keine Trivialität. In dem Augenblick nämlich, da dieser Glaube gefährdet ist – sei es, weil das Geld durch eine andere, härtere Währung verdrängt wird, sei es, weil der Staat, der über das „knappgehaltene Nichts“ wacht, zusammenzubrechen droht –, kann es zu einer Form des kollektiven Blackouts kommen: einem Psychocrash, dem der Bankencrash auf dem Fuße folgt.
     Die Scheinproduktion, welche die Aufrechterhaltung unseres Realitätsprinzips verbürgt, ist vielleicht das größte Gedankentabu – besagt es doch, daß wir nicht von Realitäten, sondern von einem kollektiven Phantasma ausgehen müssen (was ein Grund dafür sein mag, daß die Nationalökonomen die Problematik der Geldillusion so peinlich vermeiden wie der Teufel das Weihwasser).

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Man muß kein Ökonom sein, um zu konstatieren, daß die kapitalistische Scheinproduktion fadenscheinig geworden ist, ja, daß sich hinter dem abgewetzten, verschlissenen Gewebe nichts mehr verbirgt – nur die Einsicht, daß die Herrschaft splitterfasernackt, ja mittellos dasteht. Und weil diese Einsicht das Schreckbild vollständiger Anomie evoziert, sind die Herrschenden dazu übergegangen, sich als Hüter des Scheins zu bewähren, whatever it takes! Allerdings zeigt ein Blick zurück, daß der damit verbundene Aufwand mit jeder Krise größer geworden ist, ja, daß die Flickschusterei noch größere Löcher hinterlassen hat als zuvor. Hat nicht die vergebliche Suche nach den Kreditausfallversicherungen die Weltwirtschaft an den Rand des Kollapses geführt? Daß mit dem schwindenden Zukunftsvertrauen der Geisteshorizont sich verdunkelt, ist schlimm genug, ärger ist, daß bereits die Aufrechterhaltung der Gegenwart geradezu übermenschliche Kräfte verlangt. Der Negativzins ist insofern ein schlagendes Exempel, als er das Fundament, ja das Prinzip der kapitalistischen Geldordnung überhaupt suspendiert. Gibt sich uns dies in der Allerweltsweisheit „Zeit ist Geld“ zu erkennen, so steckt darin die seit der mechanischen Uhr verbreitete Zukunftsgewißheit, daß die tickende, fortschreitende Zeit ein Surplus an Rationalität und Mehrwert generiert.7 Weil sich dies unter den obwaltenden Umständen nicht mehr von selbst versteht, sind die Hüter des Scheins dazu übergegangen, sich Zeit zu kaufen, hat sich eine sonderbare Zombieökonomie herausgebildet, bei der die Aufgabe der Working Dead vor allem in der Vortäuschung eines business as usual besteht. Von daher wäre die gegenwärtige Scheinproduktion als Versuch zu begreifen, den progredienten (Schein-)Realitätsverlust nach Kräften zu verschleiern. Die Frage ist nur: Seit wann ist das Goldene Zeitalter des Kapitalismus vorbei? Und wodurch ist das bewirkt?

(…)

Mit der Finanzkrise hat sich die Ökonomie endgültig von der Vorstellung gelöst, daß der Wert des Geldes durch etwas Materielles (durch überschuldete Immobilien etwa) gedeckt sei. Daß die findigen Investmentbanker sich in der Folge den (abermals staatsgedeckten) Studiendarlehen zugewandt haben, ist ein schlagender Beleg dafür, daß nun der einzelne, als Humankapital, die Rolle einer wandelnden Münze eingenommen hat.19 Abgesehen einmal davon, daß dem Begriff der Scheinproduktion im universitären Kontext eine unfreiwillige Ironie innewohnt, bedeutet dies eine weitere Verschärfung, ja eine Ausweitung der Kampfzone. Denn die Kombination von steigenden Studiengebühren, sinkender Leistung und fraglichen Berufsaussichten annonciert eine 2.0-Version der Subprime-Krise – nur daß hier nicht Hypotheken, sondern die Futures junger Menschen auf dem Spiel stehen. Weil der Wettbewerb fortan dem Humankapital gilt, kapriziert man sich nicht mehr auf die Produktion von Gütern, sondern auf Identitäten – und diese Images werden im Kampf um die Aufmerksamkeit gegeneinander in Stellung gebracht.
     Schon das Privatfernsehen der neunziger Jahre hatte ahnen lassen, daß Andy Warhols Fünfzehn-Minuten-Ruhm eine allzu rosige Zukunftsvorstellung darstellte. Formate wie Big Brother oder Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! führen unmißverständlich vor Augen, daß der Walk of Fame zu einem Walk of Shame geworden ist. Wenn die meisten Zeitgenossen nur in Hinsicht auf ihren Mißbrauchswert Punkte zu sammeln vermögen, so zeigt sich darin ein Moment vollständiger Überforderung. In einer radikalen Überbietung des Schlemihlschen Schattenraubs muß sich der einzelne einen unmöglichen Tausch eingestehen: Er hat sich verkauft, aber er weiß nicht, an wen. Es gibt keinen Teufelspakt, keine erkennbare Instanz, die ihm noch sagen könnte, was seine Seele überhaupt wert ist.
     Strenggenommen ist bereits der Einstieg in die Aufmerksamkeitsökonomie mit einer psychischen Spaltung verbunden. Denn hier wird dem einzelnen nur dort Wertschätzung zuteil, wo er sich zum Avatar gewandelt, im Grunde also eine vergesellschaftete Gestalt angenommen hat. Weil das Selbstverwirklichungsprogramm darauf hinausläuft, daß man realisiert, was man nicht ist, ist das zur Ich-AG geadelte neoliberale Selbst dazu verdammt, als Akteur, als wandelnde Werbetafel und als Publikum seiner selbst in Erscheinung zu treten: als Kostümbildner, Regisseur und Impresario in einer Person. Insofern diese widersprüchlichen Rollen ein Höchstmaß an psychischer Dissoziation mit sich bringen, besteht die Aufgabe darin, das verletzliche, bedürftige Selbst zu verbergen (so wie Dorian Gray sein Ebenbild in eine Abstellkammer verbannt hat), während der Avatar einen möglichst glänzenden Auftritt hinlegen soll. In jedem Fall hat sich das klassische „Erkenne dich selbst!“ zu einem „Zeig dich!“, ärger noch, zu einem „Show off!“ gewandelt. Nun mag der Influencer, als Held der Konsumindustrie, die Illusion verkaufen, daß sein Lebensmodell in Klickweite liegt, die Grunderfahrung des einzelnen jedoch ist das Gefühl vollständiger Atomisierung, ja, eine Form der Bedeutungslosigkeit.

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