LI 67, Winter 2004
Vaters Knochen
Elementardaten
Genre: Erinnerung, Memoiren
Übersetzung: Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
Textauszug
„Im menschlichen Körper“, erklärte der Priester meinem Bruder auf dem  Verbrennungsplatz, während sie die Asche meines Vaters durchsiebten,  „gibt es einen Knochen, in dem die Seele wohnt. Er heißt atma ram –  die Wohnstätte der Seele. Es geschieht selten, daß man diesen Knochen  nach der Verbrennung eines Leichnams unversehrt vorfindet. Wenn wir ihn  finden, sind wir davon überzeugt, daß der Mensch, der dahingegangen ist,  eine sehr erhabene Seele war – wie Ihr Vater. Sehen Sie“, sagte er und  hielt meinem Bruder den Knochen hin.
Rahul sah ihn sich an. Der  kleine Knochen, den er jetzt in der Hand hielt, hätte ein Wirbel gewesen  sein können – oder vielleicht zwei miteinander verschmolzene Wirbel.  Voller Erstaunen betrachtete er ihn, während der Priester seine  Eigenschaften beschrieb: „Sehen Sie“, sagte er, „er hat die Form eines  sitzenden Menschen. Hier, hier sind die Beine, die Arme, hier ist das  Gesicht …“
Rahul sah genauer hin. „Das also ist von meinem Vater  übrig“, dachte er, während er den kleinen Knochen anstarrte. Vor sich  sah er ein nahezu perfektes Modell eines Menschen, die Beine voneinander  getrennt, die Arme abgespreizt, die Hände auf den Knien, ein Gesicht  mit Zügen, die aussahen wie Augen, Nase, Mund und Ohren, ein Kopf mit  einer Art Krone darauf („Noch seltener findet man die Krone vor“, sagte  der Priester) und eine kleine, flache Brust, in der sich  unglaublicherweise ein Schlitz befand, der ein winziges herzähnliches  Objekt enthielt, von dem lange, mikroskopisch kleine Röhren ausgingen.
„Darf  ich das behalten?“ fragte er den Priester. „Ich möchte es nach Hause  mitnehmen und meiner Familie zeigen.“
„Tja, mein Sohn“, sagte der  Priester, „du weißt doch, wenn ein Mensch sein Haus verlassen hat, dann  gilt es als unheilbringend, ihn wieder dorthin zurückzutragen. Die  Seele deines Vaters ist jetzt bei Gott. Wozu willst du diese leere Hülle  mit nach Hause nehmen?“
„Aber wir sind nicht besonders religiös“,  sagte Rahul mit leiser Beharrlichkeit in der Stimme, „ich glaube nicht,  daß sich jemand Sorgen darüber machen wird, daß das unheilbringend ist.“
„Nun  ja“, sagte der Priester, „du mußt tun, was du für richtig hältst, aber  warum machst du nicht einfach Photos davon und zeigst deiner Familie die  Photos?“
Schließlich nahm Rahul den Knochen nicht nach Hause  mit. Statt dessen steckte er ihn zusammen mit anderen Knochensplittern  in einen kleinen Beutel, füllte einen anderen, größeren Beutel mit der  Asche und ließ beide auf dem Verbrennungsplatz in einem Schließfach  zurück. Er würde sie später abholen, um sie in Haridwar im Ganges zu  versenken.
Mein Vater starb an einem strahlend heißen Augusttag  im Jahre 2001. Er war nur kurze Zeit krank gewesen – davon fünf Tage  lang bewußtlos. „Die kommende Nacht ist kritisch“, erklärten uns die  Ärzte an dem Tag, an dem sich sein Zustand verschlechterte, „wenn er sie  übersteht, dann wird er sich wieder erholen.“ Er überstand sie, aber  nicht aus eigener Kraft. Die Apparate hielten ihn am Leben. In der  ersten Nacht hörte ich mich darum beten, daß er am Leben bleiben möge,  und dann betete ich, er möge sterben. Ich erinnere mich, wie sich eine  Art kalte Furcht um mein Herz legte, und in dieser Atmosphäre voller  Angst und Sorge fing ich an, alle möglichen Dinge zu sehen. Mir schien,  als mache sich in meinem Zimmer Nacht für Nacht, wenn ich zu schlafen  versuchte, so etwas wie ein weißes Licht bemerkbar – oder lasse seine  Gegenwart spüren –, und zu diesem Licht betete ich um die Erlösung  meines Vaters. Im grellen Tageslicht baten wir – meine Mutter, meine  Geschwister und ich – die Ärzte, sie möchten die Stecker herausziehen,  die lebenserhaltenden Apparate abschalten, ihn erlösen. Wir sind  erwachsene Menschen, sagten wir zu ihnen, wir können es ertragen. Das  dürfen wir nicht, antworteten sie, es ist illegal. Sie meinen also, das  könnte immer so weitergehen, daß er so daliegt, fragten wir sie. Ja, das  ist möglich, antworteten sie unverbindlich.
Die Situation, vor  der sich mein Vater am meisten gefürchtet hatte, war die, und das hatte  er oft gesagt, daß er, wenn er einmal krank würde und ins Krankenhaus  eingeliefert werden müßte, von allen verlassen dort liegen müßte,  allein, ohne Begleitung und ungeliebt. Das war eine absolut irrationale  Befürchtung, aber gleichwohl war sie da und ließ sich nicht leicht  abschütteln. Sosehr wir ihn davon zu überzeugen versuchten, daß wir ihn  alle viel zu sehr liebten, als daß wir ihn allein lassen würden, er  glaubte uns nicht. „Nun wird es sich bewahrheiten“, dachte ich jetzt in  Panik, „er wird immer weitermachen, er wird bewußtlos bleiben, er wird  daliegen, während die Apparate für ihn atmen, und wir werden zu unserem  Leben zurückkehren. Vielleicht hatte er doch recht.“ Es kam nicht dazu.  Tröstlicherweise starb er am fünften Tag. Im Tode wie im Leben machte er  niemandem Mühe.
(...)
 
   
   
   
  