LI 66, Herbst 2004
Blutige Buchprüfung
Untersuchung zur Lage der chinesischen BauernElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism, Recherche
Übersetzung: Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
Textauszug
(...) Am 14. Februar ging die kleine Untersuchungskommission daran, die  Belege für die „Steuerabgaben des Dorfes" zu überprüfen. Zhang Dianhu,  der stellvertretende Ortsgruppensekretär, der für die Finanzbuchhaltung  zuständig war, schaffte alte Belege heran, aber halbherzig, was Zhang  Guiquan durchaus eine Hilfe war. Aber er brachte ihn wider Erwarten auch  gegen sich auf. Zhang Guiquan besuchte ihn zu Hause und griff Zhang  Dianhu wütend an, er solle „keine alten Belege herausgeben". Am 15.  desselben Monats ließ Zhang Guiquans Schwiegertochter Zhang Xiufang bei  irgendeiner Gelegenheit durchklingen, ihr Schwiegervater habe Mordpläne.
Diesen  Drohungen Zhang Guiquans maßen die Führungskader auf Dorf- und  Kreisebene nicht die nötige Bedeutung bei, auch die  Untersuchungsdelegierten glaubten, Zhang Guiquan wolle die Leute bloß  kopfscheu machen. Keiner machte eine große Sache daraus.
Wer  hätte auch ahnen sollen, daß die offizielle Untersuchung am Tag neun zu  Ende sein und Zhang Guiquan am Morgen des 18. Februar tatsächlich zum  Messer greifen würde!
An diesem Tag, nach dem Bauernkalender am 22.  des ersten Monats, hatte verfrüht der feine Frühlingsregen eingesetzt -  der nächste Tag erst wäre der „Tag des Regens" gewesen. Regen nieselte  auf die Dächer der Bauernbehausungen von Klein- Zhangzhuang, so als  wolle er nie wieder aufhören. Ein endloses Schlaflied. Es war bereits  hell, und die Bauern kauerten mehr oder weniger noch alle müde in ihren  Nestern.
Die achtundfünfzigjährige Wei Surong war wie immer früh  aus den Federn gekommen, um sich, wie alle Tage, in die Küche zu  begeben. Obwohl sie anders als ihr Ehemann den Kopf nicht aus dem  Fenster streckte, war sie doch über viele Dinge, die im Dorf geschahen,  auf dem laufenden. Ihr Mann Zhang Guiyu, der von der Gemeinschaft zum  Delegierten des Dorfes gewählt worden war, wollte sich, wie die anderen  elf auch, ohne Rücksicht auf Wind und Wetter, an die Überprüfung der  Dorffinanzen machen. Das geschah immerhin im Auftrag von 87 Haushalten,  denn die Sache betraf die vitalen Interessen der Dorfbewohner - und weil  Wei Surong Angst hatte, ein für das Dorf so wichtiges Ereignis zu  verpassen, hatte sie das Frühstück schon früh hergerichtet.
Zu  diesem Zeitpunkt war es draußen graugriesig, der Frühlingsregen rauschte  noch immer eintönig herab. Wei Surong trug das Essen auf, ihr Mann  Zhang Guiyu und ihr Sohn Zhang Xiaosong hatten sich gerade an den Tisch  gesetzt, der Zeiger ihres alten Weckers zeigte auf zehn nach sieben, als  Zhang Guiquan mit seinem Fünften, Zhang Yuliang, und seinem Siebten,  Zhang Leyi, in der Haustür auftauchte. Hinter ihnen drängten Zhang  Jiahui, der Dorfbuchhalter, und dessen Sohn Zhang Jie nach.
Als  Zhang Guiquan mit diesen beiden Söhnen auftauchte, war er bereits  entschlossen, gegen das buddhistische Tötungsverbot zu sündigen; das  einzige, was er noch brauchte, war ein „Vorwand".
Zhang Jie, dem  die Untersuchung durch die Dorfbewohner ebenfalls widerstrebte, denn  schließlich war sein Vater der verantwortliche Dorfbuchhalter,  überschüttete Zhang Guiyu zunächst mit Spott und Hohn: „Und, wie geht es  mit deiner Untersuchung?"
Zhang Guiyu war ein gescheiter Mann,  natürlich hörte er die Untertöne heraus; er verließ den Tisch, und  sprach kühl: „Alle haben mir den Auftrag gegeben, die Bücher zu  überprüfen, kann ich da ablehnen?"
Da fing Zhang Guiquans  Siebter, Zhang Leyi, an zu schimpfen: „Du Drecksack, wir werden dir  Überprüfung geben!"
„Was fällt dir ein! Paß auf, was du sagst!"  ermahnte Zhang Guiyu sofort den jungen Mann: „Ich könnte dein Vater  sein!"
Da griff Zhang Guiquan ein: „Das war noch lange nicht genug!",  und zu seinen Söhnen: „Schlagt zu!"
Das alles ging sehr schnell;  Zhang Guiyu stand völlig überrumpelt da.
Als Wei Surong sah, daß das  Ganze keine gute Wendung nahm, stürzte sie hinter dem Tisch vor und zog  Zhang Guiyu ins Haus zurück, wobei sie Zhang Guiquan vorhielt: „Du  tauchst ungebeten bei uns auf, schreist hier herum, was willst du denn  eigentlich?"
Da hatte sich Zhang Leyi bereits den Holzknüppel,  der neben der Tür an der Wand lehnte, gegriffen, und auch Zhang Yuliang  packte eine Sichel, die zu Zhang Guiyus Hof gehörte. Zhang Leyi tänzelte  mit dem Knüppel auf Zhang Guiyu zu, während Buchhalter Zhang Jiahui,  der dabeistand, nicht nur nicht einschritt, sondern Zhang Guiyu auch  noch an der Hüfte festhielt. Nachdem sich der erschrokkene Zhang Guiyu  losgerissen hatte, sah er Mord in den Augen seines Gegenübers. Rasch hob  er einen roten Ziegelstein vom Boden auf. Als Wei Surong gewahr wurde,  daß die Söhne des Dorfkaders ihr den Mann totschlagen würden, griff sie  sich vom Herd ein Küchenmesser.
Beide Seiten starrten einander  voller Wut und mit Waffen in Händen an, der Bogen war bis zum Äußersten  gespannt.
Das Geschrei hatte die Nachbarn alarmiert. Zhang Leyi  und Zhang Yuliang sahen eine ganze Reihe von Dorfbewohnern auf den Plan  treten, und weil viele Hunde des Hasen Tod sind, wagten sie nicht mehr,  die Hand zu heben, und zogen sich vor das Haus zurück.
Zhang Guiquan  aber wollte sich damit offensichtlich nicht zufriedengeben und stampfte  schimpfend und schreiend hinter Zhang Guiyus Haus: „Xiaoqiao (das war  der Kosename Zhang Guiyus), du Hundsfott, wenn du Mut hast, dann komm  raus!"
Zhang Guiyu war ein selbstsicherer Kerl, den man auf diese  Weise nicht einschüchtern konnte. Als er seinen Dorfkader sich derart  aufführen sah, folgte er ihm ungerührt hinter das Haus und fragte ihn  vorwurfsvoll: „Wir überprüfen deine Bücher, weil die Dorfbewohner mich  zu ihrem Vertreter gewählt haben, was kann ich dafür! Also halt dein  ungewaschenes Maul, an mir hast du nichts!"
Doch während sie noch  stritten, hatte Zhang Guiquan heimlich Zhang Leyi nach Hause geschickt,  um Hilfe zu holen. Wenig später erschienen Zhang Jiazhi, Zhang Guiquans  Ältester, und sein Sechster, Zhang Chaowei, auf dem Plan; was niemand  wußte: Sie hatten Mordwerkzeuge bei sich. Zhang Chaowei trat vor und  schlug auf Zhang Guiyu ein, Zhang Yuliang nutzte die Gelegenheit und  schlug Zhang Guiyu den Knüppel aus der Hand; als Zhang Chaowei sah, wie  sich Zhang Guiyu mit leeren Händen, aber hartnäckig zur Wehr setzte, zog  er einen Dolch aus seinem Gummistiefel und ein Küchenmesser aus dem  Hemd und stach und haute wild auf Zhang Guiyus Kopf und Brust ein.
Zhang  Guiyu war zu überrascht, um sich zu verteidigen, konnte nicht einmal  mehr schreien und ging schwer zu Boden.
Zhang Hongzhuan und Zhang  Guimao, zwei andere Vertreter der Dorfgemeinschaft, hörten den Lärm und  hasteten zum Tatort, sahen Zhang Guiyu in seinem Blut liegen, und Zhang  Hongzhuan herrschte Zhang Guiquan an, außer sich vor Zorn: „Wie könnt  ihr nur so brutal sein? Bringt ihn wenigstens sofort ins Krankenhaus!"
In  diesem Augenblick war Zhang Guiquan bereits völlig von Sinnen. Als er  Zhang Hongzhuan und Zhang Guimao herbeieilen sah, lachte er nur  heimtückisch: „Scheiße, ihr kommt mir gerade recht, auf euch habe ich  gewartet!" Dann fuhr er Zhang Jiazhi an: „Bring es für mich zu Ende!  Bring sie um, die Herren Delegierten!"
Sofort stürzte sich Zhang  Yuliang, der ihm am nächsten stand, auf Zhang Hongzhuan und stach  unzählige Male auf seine Brust, seinen Unterleib und seine Oberschenkel  ein. Zhang Hongzhuans Verteidigung kam zu spät, er brach zusammen und  hatte seinen letzten Atemzug getan.
Als Zhang Yuliang sich auf  Zhang Hongliang stürzte, schwang auch Zhang Guiquan seinen Regenschirm,  hielt den zur Hilfe eilenden Zhang Guimao von hinten fest und fluchte:  „Scheiße, und du hast mich überall schlechtgemacht? Du willst meine  Bücher überprüfen? Na, dann komm her!" Zwar hielt er Zhang Guimao fest,  aber der Mann war groß wie ein Pferd und hatte keine Furcht vor einem  Handgemenge. Er war sich völlig im klaren, daß er für Zhang Guimao kein  Gegner war, deshalb schrie er: „Leyi, komm, wirf ihn nieder!"
Zhang  Leyi hob das große Küchenmesser, sprang hoch, zog Zhang Guimao einen  Scheitel und schlug ihn zu Boden. In diesem Augenblick kaum auch Zhang  Jiazhi mit mordroten Augen herbeigerannt, schwang sich auf den Rücken  des noch nicht besiegten Zhang Guimao und rammte ihm ein  Schweineschlachtmesser dreimal brutal in den Rücken. Das Gericht  rekonstruierte die Geschehnisse später auf der Grundlage des folgenden  Gutachtens: Zhang Guimaos Kopf wies fünf Schnittverletzungen auf, die  bis zur Schädeldecke gingen, die äußere Schädeldecke war durchbrochen  und der linke Lungenflügel perforiert – das genügte, um die Brutalität  der Mörder deutlich zu machen.
Der auf dem Boden liegende Zhang  Guiyu lag bereits im Sterben und stöhnte nur noch, doch als Zhang  Jiazhi, völlig außer sich, bemerkte, daß er noch nicht tot war, warf er  sich auf ihn und versetzte ihm noch einmal fünf Messerstiche in die  Brust.
Im Handumdrehen lagen also drei von den zwölf Vertretern  der Dorfbewohner tot hinter Zhang Guiyus Haus. Der Regen vermischte sich  mit dem Blut, die Erde war rot, die Luft war erfüllt von einem  betäubenden Blutgeruch.
Als Zhang Guiyus älterem Bruder Zhang  Guiyue die Nachricht zugetragen wurde, jemand habe auf seinen Bruder  einen Anschlag verübt, griff er sich den dünnen Holzstock, mit dem man  an normalen Tagen das Futter für das Vieh anrührt, und hastete zum  Tatort. Da er schlechte Augen hatte, rannte er Zhang Jiazhi direkt in  die Arme und sah erst dann seinen Bruder auf dem Boden liegen. „Das ist  doch Xiaoqiao!" Der Satz war kaum verklungen, als Zhang Jiazhi ihm auch  schon das Schlachtmesser, das er in der Hand hielt, in die Brust stieß.
Der  sechzehnjährige Zhang Xiaosong war in all dem Durcheinander seinem  Vater zur Seite gesprungen, um ihn aufzurichten und ins Krankenhaus zu  bringen. Doch Zhang Chaowei, der es nicht litt, daß Zhang Guiyu gerettet  werden sollte, hob sein blutverschmiertes Küchenmesser und wollte damit  auf Zhang Xiaosongs Kopf einhauen. Die Leute, die das sahen, schrien,  um Zhang Xiaosong zu warnen, worauf dieser den Kopf zur Seite nahm, so  daß Zhang Chaoweis Messer auf Zhang Xiaosongs Schulter niedersauste.  Zhang Xiaosong sprang Hals über Kopf davon, was ihm glücklicherweise das  Leben rettete.
Innerhalb von nur fünf Minuten hatte es in  Klein-Zhangzhuang vier Tote und einen Verletzten gegeben. In den Pfützen  stand Blut, und der Wind roch nach rohem Fleisch.
Als auch Zhang  Guiquans Vierter Zhang Simao mit gezücktem Messer auf dem Plan erschien,  forderte die Stimme von Ortsgruppensekretär Zhang Dianfeng gerade aus  dem großen Lautsprecher die Dorfbewohner nachdrücklich auf, ihre  Überprüfung der Bücher fortzusetzen. 
(...)