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Cover Lettre International, Jakob Roepke
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LI 107, Winter 2014

Ästhetik der Wunde

Von Schrecken, Ekel und eindringlicher Schaulust

(…)

Ob Dandy, Bohemien oder Großstadtflaneur, sie alle einte eine physiologisch verschärfte Selbstwahrnehmung. Der Körper in allen seinen organischen Feinheiten wurde zum entscheidenden Instrument, auf dem die neuartigen Reize einer materiell entfalteten technischen und urbanen Wirklichkeit spielten. Er mußte bis zur äußersten Erregbarkeit getrieben und mit den ausgesuchtesten Substanzen und Rauschmitteln stimuliert werden. Im Mittelpunkt der sich jetzt auftuenden künstlichen Paradiese stand eine Fleischlichkeit, die dem Menschen zu etwas verhalf, was Baudelaire als „Singularität“ auszeichnet. Den praktischen Zumutungen des Alltagslebens unzuträglich, läßt die aufkommende Nervosität und hochgezüchtete sensuelle Raffinesse den eigenen Körper zu keiner Sekunde in Unaufmerksamkeit und Unbewußtheit weggleiten.

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Es ist das „Raubtier“, das sich nach dem Fleisch des anderen sehnt, welches es beuteartig an sich reißen, verzehren will. Auf einer Zeichnung, die Baudelaire von seiner Geliebten Jeanne anfertigte, hat er notiert: „quaerens quem devoret“„auf der Suche nach einem, den sie verschlingen kann“ 9. Baudelaire desavouiert im Kapitalismus des Second Empire die Liebe, und damit ihre romantische Überhöhung, nicht nur in seinen Prostituierten-Gedichten als käufliches Fleisch. Bezahlen stellt jetzt die neue Form des Beutemachens und Sich-Aneignens dar. Das Bezugssystem, worin Körper und Begehren ihr Arrangement finden, ist in diesem geschichtlichen Umfeld nicht länger die bürgerlich-empfindsame Liebe, sondern die im ökonomischen Raum der Großstadt exponierte Fleischlichkeit. Ihre Bedeutung verschiebt sich hin zum Lustwert, zur pornographischen Entblößung und käuflichen Bloßstellung. Markt und Fleisch werden neu korreliert. Wie Markt und Literatur. Je uneingeschränkter sich der Mensch selbst am Arbeitsmarkt verkaufen muß, „desto mehr durchdringt ihn der Frosthauch der Warenwirtschaft“, so hat es Walter Benjamin eingeschätzt, ohne zu erwägen, welches erhitzende Potential von Erregungen der Welt der Produkte und Erlebniswaren entspringen kann. Doch hat er uneingeschränkt recht mit der Feststellung, daß „sich der Sexus in Baudelaire vom Eros losgesagt“ hat.

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Die Wirkung des fleischlichen Horrors zielt auf den Affekt, der sich im ästhetischen Schock und der phantastischen Angst des Alptraums badet. Das ist nur erreichbar, wenn alles, auch das Schrecklichste, im Modus des Wirklichen gezeigt wird. Was Lessing fürs ästhetische Subjekt als unzuträglich ansah, Bilder von Körpern, „Füße und Arme mit frischem Gedärme umwunden“, wird zum Hauptgegenstand des filmischen Erlebens und der Darstellungsstrategien. Ohne die je aktuellen Maßstäbe des inszenatorischen Realismus zu erfüllen, schlingert ein Splatterfilm – Schicksal nicht weniger älterer Produktionen – in die Komik der Persiflage.11 Gegen diese Gefahr lassen sich unterschiedliche realistische Strategien anwenden, zu denen vorrangig eine dokumentarische Bildsprache zählt. Sie findet sich in manchen Darstellungen, etwa bei dem Snuff-Film Gesichter des Todes (1978; mit späteren Fortsetzungen), so weit avanciert, daß ununterscheidbar geworden ist, ob hier eine Körpertötung tatsächlich stattfindet oder nicht. Hier wird dann auch die blutige Hinrichtung zum medialen und cineastischen Massenartikel. Daß der Realismus des Splatter-Genres unter Verwendung von Tieren in Szene gesetzt wird, die vor der Kamera real getötet werden, ist im Übrigen nicht ungewöhnlich. Und die letzte Ersatzhandlung des rituellen Opfergestus.

Mit dem Eindringen der Kamera in den aufgetrennten, zerstückelten Körper, wie es der Splatter-Film liebt, macht das Aufnahmewerkzeug eine Verwandlung durch und wird selbst zum Messer, Beil oder einem anderen Verwundungsinstrument. Mit ihm zusammen dringt der Betrachter in die Wunde ein, als wäre er ein lebendes Zitat Baudelaires: „Ich bin die Wunde, bin der Stahl (…) / Und bin der Quäler und die Qual!“ Dem korrespondiert, seit The Texas Chainsaw Massacre (1974), die Filmtechnik schneller Schnitte, die mit der technischen Zerlege-Geschwindigkeit der Motorsäge – oder des fragmentierenden Tötens überhaupt – parallel läuft. Medium und Message finden synergetisch zusammen. Der short cut bietet beste Möglichkeiten, die Frequenz des Plötzlichen zu erhöhen und damit die Wahrscheinlichkeit, das sprunghaft Andere und entsetzlich Fremdartige hereinbrechen zu lassen.

Schaulust – Zerfleischung

Seit Baudelaire war der schockierende und ekelhafte Reiz der Wunde und des zerfleischten Körpers ein Privileg dekadenter Ästheten. Mit dem Splatterfilm wird er zum Massenerfolg.13 Die ästhetische Wunde wird nun von einem riesigen Publikum in den erschreckendsten Formen gesehen und genossen. Wer dies nicht in dieser Verbreitungsform tut, begegnet ihr bald auch innerhalb der Kultur des Mainstreams, wo der kommerzielle Erfolg von zerschnittenen Körpern und sämtlichen Arten der fleischlichen Verstümmelung nicht zuletzt auch die häuslichen Medien erreicht.14 Dabei fällt es, hat man die stärksten Beispiele gesehen, schwer sich vorzustellen, wie die Malträtierung und Massakrierung von Menschenfleisch noch optimiert werden könnte.

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