LI 81, Sommer 2008
Geschichtsprognosen
Weltbürgerliche Absichten und die Weltregenten des EigennutzesElementardaten
Textauszug
Der Titel klang kompliziert: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in  weltbürgerlicher Absicht. Der Text war von vollkommener  Durchsichtigkeit, bedächtig, pathoslos, das tiefe Ungenügen an Weltlauf  und Weltzustand hinter einer Sachlichkeit verbergend, die der tiefste  Ausdruck dieses Ungenügens war, mit Autorität argumentierend in einer  Weise, daß deutlich wurde, wie der Autor um alles wußte, was seiner Idee  entgegenstand, und sie doch als eine notwendige, ja zwangsläufige  behauptend, wenn man der Menschheit denn eine Zukunft zuschreiben wolle,  die der Beschaffenheit des Menschen als eines vernunftbegabten  Naturwesens entspräche und ihn nicht bloß als das Ergebnis einer „zwecklos  spielenden Natur“ ansehe oder gar „eines bösartigen Geistes“, der  die Anordnung eines weisen Schöpfers „neidischer Weise verderbt  habe“.
Es war eine Berliner Zeitschrift, die 1783 von zwei  tatkräftigen Aufklärern gegründete und unter dem Schutz des preußischen  Kultusministers von Zedlitz stehende Berlinische Monatsschrift, die  diesen Text im Jahre 1784 ihrer über das ganze protestantische  Deutschland verstreuten Leserschaft vorlegte. Der Autor war kein  Berliner; er hatte die weltoffene Handelsstadt, an deren Universität er  eine Professur bekleidete, nie verlassen und drei Jahre zuvor ein die  europäische Philosophie umstürzendes Werk veröffentlicht, das die  Aufklärung über sich selbst aufklärte und Kritik der reinen Vernunft  hieß. Als Geschichtsphilosoph erwies dieser Untertan  Friedrichs II. sich als nicht weniger revolutionär denn als  Erkenntnistheoretiker: Die Rede ist von Immanuel Kant.
224 Jahre  sind über diesen Text hingegangen und haben ihn nicht veralten lassen,  so wenig wie einen ihm 14 Jahre später folgenden, der, fünf Jahre nach  der Hinrichtung Ludwigs XVI., so weit ging, die selbstlose und riskante,  also offenbar moralisch motivierte Anteilnahme des deutschen Publikums  an der Behauptung der Volksrechte in der Französischen Revolution für  ein Indiz, fast eine Gewähr dafür zu erklären, daß nicht nur im  einzelnen Menschen, sondern in der Gattung, der Menschheit ein  moralisches Bewußtsein am Werk sei, das auf ein „Fortschreiten zum  Besseren“ in deren Gesamtorganisation nicht nur hoffen lasse,  sondern es prognostizierbar mache. War Kant, der Widersacher aller  Schwärmerei, Utopist? Er ist der wahre, der realistische Utopiker der  deutschen Philosophie, einer, der sich und andern nicht zuviel  verspricht, wenn er Indizien möglicher Besserung bemerkt. „Allmählich“,  prognostiziert er, „wird der Gewalttätigkeit von Seiten der  Mächtigen weniger, der Folgsamkeit in Ansehung der Gesetze mehr werden …  ohne daß dabei die moralische Grundlage im Menschengeschlechte im  mindesten vergrößert werden darf, als wozu auch eine Art von neuer  Schöpfung (übernatürlicher Einfluß) erforderlich sein würde.“
Kant  ist kein Prediger endzeitlicher Harmonie; er ist Anthropologe genug, um  zu wissen, „daß die Masse des unserer Natur angearteten Guten und  Bösen in der Anlage immer dieselbe bleibe“. Zugleich weiß er, daß  der Mensch, um – das ist sein zentrales Kriterium – alle seine  Naturanlagen zu entwickeln, eine Mischung von Eintracht und Zwietracht  nötig hat, die er „die ungesellige Geselligkeit“ nennt. „Der  Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine  Gattung gut ist: sie will Zwietracht“, nämlich um ihn „aus der  Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus“ zu bringen und „in  Arbeit und Mühseligkeiten“ zu stürzen. Die Lösung: eine  Gesellschaft, „die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen  Antagonism ihrer Glieder“ mit der „genausten Bestimmung und  Sicherung der Grenzen dieser Freiheit“ verbindet, „damit sie  mit der Freiheit anderer bestehen könne“. So und nur so könne „die  höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer  Anlagen, in der Menschheit erreicht werden“.
Auf dem Weg zu  einer Freiheit und Ordnung dergestalt in ein dynamisches Gleichgewicht  bringenden Gesellschaft (Kant nennt sie die bürgerliche, später die  republikanische) erkennt der Autor zwei Probleme. Das eine nennt er „das  schwerste, das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöst  wird“. Der Mensch sei „ein Tier, das, wenn es unter andern  seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat, … der ihm den eigenen Willen  breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei  sein kann, zu gehorchen“. „Wo nimmt er aber“, fragt sich der  Autor, „diesen Herrn her? Nirgend anders als aus der  Menschengattung. Aber dieser ist ebensowohl ein Tier, das einen Herrn  nötig hat. Er mag es also anfangen, wie er will: so ist nicht abzusehen,  wie er sich ein Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit verschaffen  könne, das selbst gerecht sei“; dasselbe gelte für eine regierende  Gruppe.
Kant setzt an dieser Stelle eine jener Fußnoten hinzu,  die zu seinen kostbarsten Stilmitteln gehören: „Wenn wir aber diesen  Auftrag der Natur gut ausrichten, so können wir uns wohl schmeicheln,  daß wir unter unseren Nachbarn im Weltgebäude einen nicht geringen Rang  behaupten dürften.“ Kein schlechter Ansporn zur Welteinrenkung: daß  wir uns bei unsern Nachbarn in den Galaxien auszeichnen können. Aber  die Voraussetzung ist nicht aufrechtzuerhalten: Wir haben keine Nachbarn  in einem Weltgebäude, das von jeher und immer noch in detonativer  Ausdehnung begriffen ist. Daß es diese Nachbarn geben könne, ist  unwahrscheinlich in einem so horrenden Grad, daß die Einzigartigkeit des  Menschen für wissenschaftlich erhärtet gelten kann. Um so dringlicher  ist die Behebung der Diskrepanz, sagen wir ruhig: des antagonistischen  Widerspruchs zwischen der offenbaren Gelungenheit des Einzelwesens und  der Abwegigkeit der gesellschaftlichen Gesamtexistenz.
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