LI 83, Winter 2008
Transport
Elementardaten
Genre: Erzählung
Übersetzung: Aus dem Griechischen von Ulf-Dieter Klemm
Textauszug
Kaum aus dem Haus, drang ein Lachen an  ihr Ohr. Es war derart metallisch durchdringend, daß es ihr zunächst  schien, als sei es kein Lachen, sondern ein Quieken, das nicht von einem  Menschen stammte, die unnatürlich lange Dauer gab ihr jedoch Zeit zu  begreifen, daß irgend jemand lachte; dennoch vermittelte es ihr, während  es unvermindert anhielt, weiterhin den Eindruck, daß es kein Lachen  sei, es glich mehr dem Schrei eines Tiers, das mit einem spitzen  Werkzeug unablässig gequält wird. Dieses lachende Jaulen erweckte in ihr  für einen Moment den Drang, demjenigen, der es in so mißtönender Weise  hervorstieß, zu Hilfe zu eilen wie jemandem, der mißhandelt wird und  unsäglich leidet, jedoch verlieh das unnatürliche, ans Übermenschliche  grenzende Andauern des Lachens ihr erneut die Gewißheit, daß es für  jenen, der so lachte, reiner Genuß war und daß die Gefühle, die er bei  anderen auslöste, ihm gleichgültig waren, ja daß die Geduldsprobe, der  er ihre Nerven aussetzte, ihn sogar amüsierte.
Diese Frage  stellte sie sich jedesmal, wenn sie aus dem Haus gehen wollte, und die  Antwort erhielt sie jeweils später.
Während sie zur  Bushaltestelle ging, drangen aus verschiedenen Richtungen weitere  Schreie an ihr Ohr, eine ungewisse Mischung aus Geheul, Wehgeschrei und  herzzerreißendem Blöken in gleicher Lautstärke wie das Lachen. Obwohl  sie diese vermengten Schreie schon öfter gehört hatte, gelang es ihr auf  dem Weg zwischen Haus und Haltestelle gleichwohl nicht, ein  unangenehmes Erschrecken zu unterdrücken, und keinerlei Gewöhnung  vermochte ihre innere Erschütterung zu dämpfen. Jedesmal bevor sie  hinausging, versuchte sie sich innerlich darauf vorzubereiten, aber nie  war sie so eingestimmt, daß sie die kurze Wegstrecke gleichgültig und  unbeeinflußt, völlig ohne Schaden bewältigen konnte; nie gelang es ihr,  ihre Nerven unter Kontrolle zu bringen, ihnen ihren Willen aufzuzwingen,  eine nahezu reflexartige Reaktion auf das zu unterdrücken, von dem sie  im vorhinein wußte, daß sie es hören und sehen würde. Diese Schwäche,  diese Unfähigkeit, sich innerlich vorzubereiten, sich selbst zu  schützen, deprimierte sie, regte sie auf, verlieh ihr vor allem das  Gefühl, unvollkommen zu sein, bis zur Versehrtheit unfähig, einen  angeborenen Makel zu überwinden, einen Mangel, etwas, was sie vor ihr  selbst entblößte, und wie jedesmal spürte sie auch jetzt, in diesem  Moment, wie jener Rhythmus einsetzte, von dem sie wußte, wie weit sein  Rasen gehen konnte.
Die Strecke erschien ihr unendlich. Sie hatte  versucht, auf anderen Wegen die Haltestelle zu erreichen, mußte jedoch  auch dort ähnliche Situationen überwinden; welchen Weg sie auch  einschlug, überall sah und hörte sie dasselbe, als sei jede Straße die  Kopie oder leichte Abwandlung der übrigen Straßen.
Sie war schon  länger nicht ausgegangen. Sie versuchte, ihre Ausgänge auf das Minimum,  das absolut Notwendige zu reduzieren, und legte Vorräte für so viele  Tage wie möglich an; soweit sie diese nicht telefonisch bestellen  konnte, mußte sie sie selbst besorgen. Diese unausweichlichen Ausgänge  drückten sie schon Tage vorher nieder, und nach jeder Rückkehr fand sie  nur mühsam ihr erschüttertes Gleichgewicht wieder. So sehr sie auch sich  selbst recht gab, was ihre Reaktion auf all das und anderes betraf, so  fand sie doch auch, daß ihre Reaktion etwas Zielloses hatte, etwas, das  nicht völlig den Dingen entsprach, etwas Übertriebenes, vielleicht auch  Unnatürliches, dessen wahrer Beweggrund möglicherweise nicht der war,  den sie annahm, etwas Tieferes, das sie sich nicht einzugestehen und in  ihr Leben zu integrieren oder auch nur mit Fassung zu konfrontieren  wagte und dem sie ständig auswich, indem sie ihm Erklärungen gab und  Bezeichnungen verlieh, die nicht zutrafen. Selbst diese nüchterne  Feststellung war jedoch nicht ausreichend, um den sich beschleunigenden  Rhythmus einzudämmen, der schließlich immer von ihr Besitz ergriff,  unkontrollierbar und unergründlich wie die kollektive Bewegung einer  Menschenmasse, die, aufgepeitscht von Brandparolen und fanatischen  Sinnestäuschungen, außer sich gerät und sich in extremen Handlungen  entlädt; so umfassend von ihr Besitz ergriff, daß sie irgendwann  mitgerissen von dem entfesselten Schwung unfähig war, ihm irgendeinen  Widerstand entgegenzusetzen, als werde sie von dem genauen Gegenteil  dessen beherrscht, was in ihr die Gefühle auslöste, minderwertig zu  sein, zu einer niedrigeren Spezies zu gehören, der Behandlung wert, die  sie sich selbst zufügte.
Bei der Hitze standen alle Fenster  offen, sogar die Türen. In der Straßenmitte voranschreitend brauchte sie  weder nach rechts noch nach links zu schauen, um zu sehen, was sich auf  den Bürgersteigen tat. Es waren dieselben. Sie kannte niemanden, mit  niemandem hatte sie je gesprochen, sie hatte sie jedoch schon so oft  gesehen, daß es war, als könne sie sie sehen, ohne nach ihnen zu  schauen. Sie saßen auf Eingangstreppen, hockten auf ihren Füßen und auf  Bordsteinen oder gingen langsam, träge auf und ab, rauchten,  gestikulierten, riefen sich von einem Gehweg zum anderen etwas zu oder  bildeten Gruppen von drei, vier, die leise etwas besprachen, als dürfe  sie niemand belauschen, oder sie standen aufgereiht entlang der Wände,  als warteten sie darauf, daß jemand ihnen etwas bringe oder sage, einige  sorgfältig gekleidet, frisch rasiert, die dichten Haare gestriegelt,  glänzend, als kämen sie gerade aus dem Bad und hätten ihre besten  Kleider angezogen in der Erwartung, daß etwas ihr Leben grundsätzlich  ändern würde, andere mit nackten, seit Tagen ungewaschenen Füßen in  ausgetretenen Plastikpantoffeln, im Unterhemd und mit ausgebeulten  Hosen, unrasiert, mit vor Erschöpfung, vor enttäuschter Erwartung  ausdrucklosen Gesichtern, mit einem Anflug von Resignation und Überdruß  in ihren Bewegungen, als hätten sie begriffen und akzeptiert, daß das,  was man ihnen versprochen hatte, nicht geschehen würde, daß sie umsonst  dort stünden, daß man sie nicht abholen und hinbringen würde, wohin man  ihnen gesagt hatte, ohne allerdings anzugeben, was das Ziel sei, alle  indessen in einem Zustand fortgesetzter, ununterbrochener Unerfülltheit,  die zu beenden sie nicht den Mut hatten, in einem Zwischenraum  verharrend, sowohl nach wie vor etwas, abgeschlossen das erste, das  zweite endlos, in einer Art sinnlosem Gedränge, einem grundlosen Fieber,  geladen mit Energie ohne Ausweg und Ziel, in einer Atmosphäre  vollendeter Nutzlosigkeit, die um so unzeitgemäßer erschien, als die  meisten jung und kräftig waren, trainiert durch das ihnen aufgezwungene  Elend, voller Elan, der bei vielen die Form unverhüllter Sexualität  annahm, einer spontanen und hungrigen, jedoch isolierten und ausweglosen  Sinnlichkeit, die sich nur durch beharrliche, durchdringende Blicke  äußerte, welche undefinierbare und unentzifferbare Botschaften  aussandten und die sie schon oft auf ihrer Haut gespürt hatte, ohne daß  sie sich in eine Bewegung oder Geste verwandelt hätten oder auch nur zu  Worten geworden wären, diese einsilbigen Gesichtsausdrücke voller  Aussagen, durch die ihre Gesichter den Eindruck vermittelten, als  bestünden sie nur aus Augen, aus Augen und sonst nichts.
Es gab  auch Frauen; sie hingen in den Fenstern oder drängten sich auf schmalen  Balkonen, strickten, hängten Wäsche auf, hielten Säuglinge auf dem Arm,  riefen nach größeren Kindern, die auf der Straße spielten, und redeten  dabei unaufhörlich alle zugleich; einige von ihnen gingen auch hinaus  auf die Straße im selben Aufzug wie zu Hause, in Hosen, die nicht zu  ihren Körpern paßten, mit Schuhen, die ihren Gang entstellten, mit einer  Körperlichkeit, die vermittelte, daß irgend etwas Überindividuelles,  etwas Gemeinsames passiert war, was zu Mißwuchs geführt hatte,  unnatürlich kleine Hände, überdimensional große Köpfe im Verhältnis zur  übrigen unterernährten Gestalt, Rücken mit hervorstehenden Knochen und  dichten Spuren von Pickeln, als hätten sie sich gerade von einer  schweren infektiösen Krankheit erhoben, die, noch nicht gänzlich  überwunden, ihren Gesichtern weiterhin eine unheilschwangere Blässe  verlieh, jedoch mit schnellen Bewegungen, schroffem Verhalten, mit  gemeinsamem schallenden Gelächter, das unerwartet die Luft wie Klingen  zerschnitt, mit plötzlichen Schreien, die eine unsichtbare Dynamik  verrieten, und sie hinterließen einen schweren Geruch, als hätten sie  sich mit billigem Parfüm überschüttet, ohne sich zuvor zu waschen, oder  als trügen sie ständig dieselben Kleider, die mit der Zeit trotz  gelegentlicher Wäsche den unauslöschlichen, komprimierten Gestank  üppigen Schweißes bewahrten. Mehr als alles, was sie hörte und sah, war  es dieser Geruch, der die Straße beherrschte und der zuallererst in ihr  den Rhythmus auslöste. Es war jedoch nicht allein der Geruch der  Frauenkörper noch der ebenso erstickende Geruch, der von den Männern  stammte oder gar von den Kindern, die aussahen, als wären sie seit ihrer  Geburt nicht gewaschen worden. Dieser Geruch stammte von der Straße  selbst, als werde sie niemals vom Wind erreicht, als sei die Straße ein  geschlossener Raum, Teil der Anordnung der engen Wohnungen, ein  zentraler gemeinsamer Flur für alle Wohnungen, in dem alle ihre Gerüche  zusammenflossen, Wohnungen, in denen niemals die Fenster geöffnet werden  und in denen viele Menschen zusammengepfercht leben müssen, die  dieselben Ausdünstungen schlechten Atems, ungewaschener Wäsche und  verschiedener Körperfunktionen reproduzieren; die Straße stank wie ein  Keller, in dem etwas Lebendiges, Tier oder Mensch, nach ausgiebiger  Mißhandlung hingeworfen liegt und verfault ohne Hoffnung auf Rettung,  und sei es im letzten Moment.
Während sie voranschritt und  versuchte den Kindern auszuweichen, die mit jähen Bewegungen und  Kriegsgeschrei um sie herumliefen, konnte sie dem Geruch, der sie mehr  als alles andere erregte, nicht entkommen; es war für sie schwierig,  wenn nicht unmöglich, sich die Nase zuzuhalten, man würde sie sehen, und  sie hatte Angst vor der Reaktion, daß sich alle, Männer, Frauen und  Kinder, ihr zuwenden, sie zunächst erstaunt, dann beleidigt, voller Zorn  und Erregung, beherrscht von einem Gefühl verletzter Würde hemmungslos  anschauen, umkreisen und schließlich gemeinsam über sie herfallen  würden, daß sie auf ihrem Körper ihre gesamte angestaute Wut ausleben  würden und daß von ihr, wenn sie sich zurückzögen, nichts mehr bliebe  und jeder etwas von ihr in den Händen oder im Mund trüge.
(...)
 
   
   
   
  