LI 79, Winter 2007
Ball und Bildschirm
Weltmeisterschaftsfinale 2006 - Protokoll eines Documenta-ProjektsElementardaten
Textauszug
10. Juli 2006
Heute  geben wir die Geräte zurück, gestern haben wir gedreht. Wir haben das  Endspiel nicht richtig sehen können.
Ein paar hundert Meter vom  Olympiastadion in Berlin steht das Corbusierhaus. Früher, als die  Projekte der Moderne noch einen erregenden Beigeschmack hatten, wurde es  „Wohnmaschine“ genannt.
Mit unseren Aufnahmegeräten stehen wir  während des Endspiels auf einem Balkon im achten Stock, bei Frau Krause,  wir haben einen halben Lieferwagen voller Technik auf dem Balkon und in  ihrem Wohnzimmer aufgebaut. Herr Feierabend und sein Helfer Voigt haben  eine Sound-Kamera aufgebaut. Sie besteht aus drei etwa drei Meter  langen Stangen, die, in einem Winkel von jeweils sechzig Grad  zueinander, strahlenförmig an einem Stativ befestigt werden.
Die  Auslegerstangen sind mit vielen kleinen Mikrophonen bestückt. Mit dieser  Apparatur läßt sich Ton sehr gerichtet aufnehmen. Die verschiedenen  Tonpegel werden in den Farben des Spektrums wiedergegeben. Solche Geräte  benutzt man, um Lärmquellen zu lokalisieren, in einer Fabrik etwa.
Zwei  Wochen zuvor, bei einer Probe, haben wir schöne Ergebnisse erzielt. Der  Aufschrei des Publikums, als es im Spiel Ukraine–Tunesien einen  Elfmeter gab, stellte sich als Eruption in Falschfarben dar, wie ein  bunter Vulkanausbruch.
Gestern aber gab es technische  Schwierigkeiten bei der Aufzeichnung, ich sah die beiden Männer immer  wieder den Kopf schütteln und Änderungen vornehmen. Am Ende sagte Herr  Feierabend, wenigstens die Zuschauerreaktion beim Elfmeterschießen habe  er aufzeichnen können.
Mit einer digitalen Kamera hat Ingo  Kratisch, mit dem ich seit über dreißig Jahren zusammenarbeite, eine  Totale des Stadions aufgenommen. Sie ist über zwei Stunden lang: neunzig  Minuten Spielzeit, dreißig Minuten Verlängerung, dann: Elfmeterschießen  und Siegerehrung mit Feuerwerk, alles in der gleichen Einstellung. Die  untergehende Sonne färbt die hoch über dem Stadiondach schwebenden  Dunst-, Staub- und Wolkenschichten in ein Gelb verschiedener Dichte und  Tönung. Noch während der ersten Halbzeit wird das Gelb zu Rot, Rosa und  Rotschwarz. Bei der Verlängerung strahlt nur noch das Stadionoval. Wir  nennen das die Andy-Warhol-Einstellung.
Michael Gola von der  Firma migoTherm hat die gleiche starre Totale des Stadions mit einer  Thermokamera aufgenommen. Sie gibt Temperaturverhältnisse in Farben  wieder: Blau für die relativ kühlsten Stellen am Himmel, Gelb für die  Steine der Bauwerke und Rot für die heißesten Stellen, die Luft, die aus  dem Stadion und um das Stadion aufsteigt.
Wir haben außerdem den  Ton des Polizeifunks mitgeschnitten. Gelegentlich habe ich zugehört:  Polizisten erwischen italienische Kartenfälscher, man hört die  Anweisung, bestimmte Gruppen im Auge zu behalten. Manche Polizisten  kommen nicht auf das Stadiongelände, sie haben nicht die richtige  Akkreditierung.
Während des Endspiels ist Matthias Rajmann für  uns im Stadion gewesen, in einem der vielen Räume unter den Tribünen, in  der Sicherheitszentrale. Er hat dort die Bilder mitgeschnitten, die die  Polizei während des Spiels herstellt. Viele der etwa sechzig  Überwachungskameras können ferngesteuert werden. Matthias Rajmann hat zu  diesen Bildern den Ton der Radioübertragung mitgeschnitten, damit wir  den Zeitpunkt jeder Aufnahme bestimmen können. Ein erstaunlicher  Kontrast: Wenn der Ton aufgeregt ein Foul beschreibt, sieht man  Zuschauer auf dem Weg zur Toilette über die Treppen des Stadions  schlendern. Zu sehen sind auch vorläufig Festgenommene, die in einem  Vorraum auf den Treppenstufen sitzen und das Spiel auf einem Fernseher  verfolgen, der hinter einer Glasscheibe in der Polizeistation steht.  Einmal, während Zidane den Elfmeter verwandelt, sieht man zwei  Polizistinnen rauchen und gelangweilt nach der Uhrzeit sehen.
Ebenfalls  auf dem Stadiongelände hat Ronny Tanner für uns den Ton der Bildregie  mitgeschnitten. Zu hören sind die Anweisungen, die der Regisseur der in  Deutschland hergestellten und in der ganzen Welt ausgestrahlten Fassung  seinen Kameraleuten gibt.
Wir haben viel aufgenommen, aber ich  hatte noch nicht die Muße, die Aufnahmen anzusehen und anzuhören. Ich  weiß nicht, was wir da auf den Bändern haben, so wie ich nicht weiß, wie  das Endspiel selbst zu beurteilen ist. Seit 1958 habe ich jedes  Endspiel gesehen und habe jedes besser im Kopf als das gestrige.
12.  Juli 2006 Zunächst werden die Stadien mit Steuergeldern  aufwendig renoviert, in Berlin unter schwerem Verstoß gegen die  Bestimmungen des Denkmalschutzes. Dann zieht die FIFA ein und bekommt  das Hausrecht. Sie beteiligt die Staatskassen keinesfalls an den  horrenden Einnahmen aus den Kartenverkäufen und vor allem nicht an den  Einnahmen aus den Fernsehlizenzen. Sie lizenziert auch noch „Sponsoren“.  Ein ganz falsches Wort. Es muß heißen: Sie verkauft teuer Werbeflächen  und Werbezeiten. Nach dem Spiel Portugal–Frankreich tauschten der  geschlagene Figo und der siegreiche Zidane die Trikots. Kurz bevor die  beiden im Unterhemd zu sehen waren, wurden die Sponsoren-Jingles von  Cola und McDonald’s eingespielt. Zunächst war ich empört, im nächsten  Augenblick hoffte ich, daß Cola und McDonald’s damit den Haß der  Zuschauer auf sich zögen. Als das Spielfeld wieder zu sehen war, hatte  Figo das Hemd von Zidane falsch herum an. Jetzt kam es mir toll vor, daß  Cola und McDonald’s den Hemdentausch verborgen hatten wie eine  Umkleidekabine.
Im Januar waren wir in Zug, einer Stadt in der  deutschsprachigen Schweiz, beim Sitz der FIFA. Gleich neben dem Bahnhof  gibt es ein Bürozentrum – ein Komplex von Gebäuden unter einem  gemeinsamen Glasdach. Dort haben allerlei Steuersparfirmen ihren Sitz,  auch mehrere Unternehmungen von Boris Becker.
Die Besprechung  ergab: Wir dürfen im Stadion nicht selbst filmen. Wir können aber das  Material vom Endspiel am 9. Juli in Berlin bekommen. Es handelt sich um  die Mitschnitte aus 25 oder 26 Kameras. Dafür sollen wir einen  symbolischen Betrag zahlen, der später auf zehntausend Euro festgesetzt  werden wird, außerdem die technischen Kosten der Kopien.
Der  Vertrag soll bis Ende Februar fixiert sein. Bis heute habe ich keinen.
13.  Juli 2006 In diesem Jahr gab es kaum einen Frühling, noch im  Mai habe ich gefroren. Mit Beginn der Fußballweltmeisterschaft kam der  Sommer. Der Ruf der FIFA ist so schlecht, daß ich gestern das Gerücht  hörte, die FIFA habe Silbernitrat ausgestreut, um dieses Schönwetter  herzustellen. Wetter-Doping.
Nachdem wir in der Schweiz die  Zusage bekommen hatten, den Vertrag nach spätestens einem Monat zu  bekommen, hörten wir nichts mehr von unseren Ansprechpartnern. Nichts,  sie beantworteten weder E-Mails noch Faxe, sie ließen sich am Telefon  verleugnen. Selbst die Sekretärinnen, die versprochen hatten, an einem  bestimmten Tag Auskunft zu geben, wann ihr Chef wieder im Hause sei,  waren zur verabredeten Zeit in Urlaub gegangen, ihre Vertretung wußte  von nichts, versprach Nachfrage, war zur verabredeten Zeit selbst wieder  abwesend, vielleicht an eine andere Dienststelle versetzt.
Kurz  vor Beginn der WM gelang es uns wieder, Kontakt aufzunehmen. Der Mann,  der sich drei Monate lang hatte verleugnen lassen, entschuldigt sich  nicht und stellt nun vage in Aussicht, daß der Vertrag bald  abgeschlossen werde. Drei Tage vor dem Endspiel erfahren wir, daß wir  nicht das Material aus 25 oder 26 Kameras kriegen werden, sondern nur  aus fünf. Die anderen, so heißt es, werden gar nicht gespeichert.
Wir  nehmen uns nun vor, die Signale von drei oder vier Kameras, die im  Studio eingehen, selbst mitzuschneiden. Einer von unseren zwei  Ansprechpartnern will das unterstützen, was noch nicht heißt, daß er uns  organisatorisch hilft oder auch nur erreichbar ist. Der andere aber  leugnet, uns jemals 25 Signale versprochen zu haben, und als wir ihm  seine E-Mail schicken, in der das ausdrücklich steht, kommt von ihm die  Nachricht, wir dürften überhaupt nichts mitschneiden. Es könnte die  Arbeit im Studio stören, wenn wir mit Recordern anwesend wären.
(…)
 
   
   
   
  