LI 78, Herbst 2007
Lebensfülle, Einsamkeit
Liebe, Kriege, Sex und Bücher - Martha Gellhorn schreibt an FreundeElementardaten
Textauszug
Der amerikanischen Reporterin Martha Gellhorn, die für ihre  unerschöpfliche Energie und Arbeitsethik bekannt war, sagte man nach,  sie sei eine harte Diskussionspartnerin, eine gute Trinkerin, eine  Liebhaberin der Männer gewesen. In jedem Fall hatte sie eine  Leidenschaft für Briefe an Freunde und Verwandte, Politiker, Verleger  und Kollegen. Die von ihrer Biographin Caroline Moorehead  zusammengetragenen Briefe gehören mit zum Faszinierendsten,  Funkelndsten, vielleicht auch Besten, was sie geschrieben hat. Sie sind  Zeugnis eines erfahrungsreichen Lebens voller Engagement und  unermüdlicher Suche, das Leben und die Welt zu verstehen. 
An  Ernest Hemingway, 30. November 1939, Helsinki
Rabby,
ich  liebe Dich. Das ist die Hauptsache. Ich will, daß Du das weißt.
Ich  bin gestern nachmittag mit dem, wie sich herausstellte, letzten  Flugzeug angekommen. Alles sah normal aus. Die diplomatischen  Beziehungen zu Rußland waren abgebrochen worden, aber Du weißt ja, daß  man so was nicht so ernst nimmt. Es war höllisch kalt und regnerisch und  wie in Gary, Indiana. Ich war hundemüde nach einer weiteren schlaflosen  Nacht, hatte Schüttelfrost und war unfaßbar deprimiert. Ich bin um vier  ins Bett gegangen und habe bis acht geschlafen, in meinem Zimmer etwas  gegessen und dann weitergeschlafen. Habe das erste Mal, seit ich New  York verlassen habe, gut geschlafen. Um 9 Uhr 15 war ich angezogen und  wollte zum Frühstück hinunter, da hörte ich die Sirene und dachte  einfach nur, gut, ich bin verflucht. Mehr nicht. Ich bin runtergegangen,  und es gab nichts zu sehen. Die Menschen auf den Straßen verhielten  sich prächtig, sie gingen in Luftschutzbunker, aber ohne Panik, und es  war ein herrlicher Morgen, und ich stand auf der Straße und sah zu. Dann  sah ich ungefähr 500 Meter über mir einen riesigen silbernen  dreimotorigen Bomber. Tief und langsam, im Spazierflug. Er hatte, wie  sich später herausstellte, Flugblätter abgeworfen, auf denen stand (Du  wirst es kaum glauben, es ist zu komisch): „Ihr wißt, daß wir Brot  haben, warum hungert Ihr?“ Wirklich und wahrhaftig. Heute morgen haben  sie den Flughafen bombardiert. Eine Menge ist passiert, habe ich im  Auswärtigen Amt erfahren, aber das weißt Du alles aus der Zeitung.
Die  Wolken zogen gegen Mittag auf, in Helsinki herrscht praktisch  Dauernebel wie in London. Alle sagten ganz fröhlich: Jetzt können sie  nicht kommen. Ich war überhaupt nicht fröhlich, denn ich hatte – im  Landeanflug – gedacht, dieser Nebelvorhang ist Gottes Geschenk an die  Russen. Sie können über ihnen bleiben und entweder per Radar  bombardieren oder urplötzlich abtauchen: Niemals würde man sie sehen.  Sie haben einen Stützpunkt in Tallin, 15 Flugminuten entfernt. Um drei,  bei einem späten Mittagessen, machten sie genau das; kamen unsichtbar  angeflogen, tauchten auf 200 Meter ab (stell Dir vor) und warfen ihr  Zeug ab. Aus dem Lärm und der Wirkung zu schließen, waren es  500-Kilo-Bomben, und Thermit hatten sie auch dabei. Solche  Erschütterungen habe ich noch nie erlebt; die ganze verdammte Stadt  wackelte. Muß wie März in Barcelona gewesen sein. Ich bin rausgegangen,  und da war ein riesiger Rauchvorhang, der sich durch die Straße wälzte,  und Menschen riefen: Gas – Gas … 
Das war ziemlich furchtbar,  kann ich Dir sagen. Ich habe meine Maske in NY gelassen, und die wäre  sowieso zu unhandlich gewesen, da dachte ich wirklich: Na gut, wir sind  verloren. Als keiner zu ersticken schien, ging ich mit zwei Journalisten  hinaus, italienischen Faschisten (zu denen ich oft und bitterböse  gesagt habe: „Jetzt seht ihr, wie es sich anfühlt, auf der  Verliererseite zu stehen, meine Herren“), und wir folgten dem Rauch. Es  gab drei riesige Brände, vier große Mietshäuser – einfache Wohnhäuser –,  die brannten wie Seidenpapier. Im Umkreis von sechs, sieben  Häuserblocks war Glas zerborsten. Ein Haus neben einer Tankstelle hatte  ein riesiges Loch in der Seite, daneben lagen ein brennender Bus und ein  Mann, unförmig, kopflos und tot wie unser kleiner Mann an der Ecke des  Florida an dem Morgen damals. Der Angriff hatte nicht mal eine Minute  gedauert, die Sirene heulte, als alles vorbei war, die Flugzeuge waren  erst auf 200 Metern gesichtet worden, nicht früher. Elf Bomber in  Formation von je drei mit einem vorweg und einem hinterher. Es war  einfach einer von diesen Schikaneangriffen, wie wir sie so gut kennen;  wie gut die Russkis von ihren neuen Freunden gelernt haben. Und wer  behauptet, der Sowjet sei der Freund der Arbeiter, der kriegt es mit mir  zu tun. Diese beiden Arbeiterhäuser, zerstört, und der tote Mann auf  der Straße waren ein genaues Abbild des kleinen Kerls mit seinen  geflochtenen Bastsohlen … Also.
Es wird sehr schrecklich, Rabby.  Sie sind ungefähr so gut ausgestattet wie Spanien, vom Material her.  Nichts hält die Russkis davon ab, so was drei-, viermal täglich zu  veranstalten. Die Menschen sind fabelhaft, mit einer Art bleichen,  stoischen Tapferkeit. Sie weinen nicht, und sie rennen nicht; sie nehmen  diese üble Überraschung, die sie durch nichts verdient haben, mit  Verachtung, aber ohne Angst auf. Ich habe inzwischen zuviel gesehen in  meinem Leben; ich versichere Dir, noch nie habe ich erlebt, daß den  Unschuldigen und Unbewaffneten etwas anderes widerfahren wäre, als  gejagt und zerstört zu werden. Es ist ein zutiefst entmutigender  Anblick. Die Arbeitslosen oder die Tschechen, Spanier oder Finnen oder  die armen, unterprivilegierten Matrosen auf neutralen Schiffen; mir  scheint, sie sind immer dran.
Ich trage Dein kleines Paßbild in  meinem Portemonnaie, und ich hoffe, es beschützt mich. Ich bin hier sehr  allein. Keiner von den Presseleuten ist von uns oder besonders sympathique.  Ich habe Bücher gekauft und hoffe, das hier ganz ruhig zu überstehen,  aber es ist schlimm. Ich weiß jetzt, wie schlimm, weil ich genug  Vergleiche habe. Anscheinend sind keine weiteren Flugzeuge draußen, und  die russische Flotte wurde nach Kronstadt verlegt, also wird wohl jetzt  das Meer unsicher. Ich weiß weder wann noch wie ich hier wegkomme. Ich  kann Dir nicht kabeln, weil es keine Verbindung gibt. Ich versuche, zu  unserem alten Freund Peters durchzukommen, der jetzt in Kopenhagen ist,  und werde ihn bitten, für mich zu kabeln. Ach, Rabby, was für ein  elender Schlamassel. Wir hätten Kuba nie verlassen sollen.
Marty
 
   
   
   
  