LI 81, Sommer 2008
Der Andere Fluss
Indianer - ein Tupfen Kartographie zwischen lauter weißen FleckenElementardaten
Genre: Erzählung, Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Sylvia Höfer
Textauszug
Es gibt den Fluß, den wir kennen, und noch einen anderen Fluß.
Das  wurde mir schon als kleiner Junge klar, als ich am Unterlauf des Fraser  River zwischen den Sägemühlen und den Fischerhütten aufwuchs, unter den  Brücken und in den Hinterhöfen von Burnaby, einem im Herzen von Greater  Vancouver, an Kanadas Westküste gelegenen Ort. Diese Erkenntnis ist  etwas, was mich in letzter Zeit stark beschäftigt. 
Sie fällt mir  jedes Mal ein, wenn ich die Frontberichte von jenem notwendigen Krieg  gegen den Obskurantismus und die tödliche Irrationalität des  Gottesglaubens lese, den Leute wie Richard Dawkins und Christopher  Hitchens führen. Auch kommt sie mir in den Sinn, wenn ich mich mit den  Philosophen Charles Taylor und Elliott Sober und mit dem Werk von E. O.  Wilson, dem berühmten Erforscher der Evolutionsbiologie, befasse. 
Vor  mehr als einem Jahrzehnt schrieb Wilson: „Der Kampf um die Seelen  der Menschen wird sich im nächsten Jahrhundert auf die Entscheidung  zwischen Transzendentalismus und Empirismus fokussieren.“ Obwohl  dieses Jahrhundert erst wenige Jahre alt ist, läßt sich feststellen, daß  wir bereits knietief in diesem blutigen Kampf stecken. 
Immer noch  windet und schlängelt sich der untere Abschnitt des Fraser River durch  Städte und Vororte und zwischen den verbliebenen Anbauflächen von  Greater Vancouver. Schwer und dunkel wälzt sich sein Wasser durch  unwirtliches, gebirgiges Gebiet von etwa der Größe der Britischen Insel,  und immer noch mündet der Fluß hier ins Meer. 
Das ist der Fluß, den  wir kennen. Es gibt noch einen anderen Fluß. 
So, wie es an den  Ufern dieses Flusses, den wir kennen, Städte und Dörfer gibt, gibt es  auch Städte und Dörfer an dem anderen Fluß. Manchmal, bei ungewöhnlicher  Beleuchtung oder bei Regen und Flut und dann, wenn es auf der Welt  gefährlich zugeht, oder wenn man einen großen Verlust erlitten oder  gefastet hat, kann man aus den Augenwinkeln Leute vom anderen Fluß in  Kanus sehen. Manchmal kann man auch von diesen gesehen werden. 
Der  Name, den die Alten für die Leute vom anderen Fluß haben, ist st’lalakum.  Der Name, den diese Leute für uns haben, ist ebenfalls st’lalakum. 
Ich  bin mir nicht sicher, ob ich das alles richtig verstanden habe.  Allerdings empfinde ich es als hilfreich, daß solche Dinge gelegentlich  Gegenstand der Recherchen waren, die ich im Laufe der Jahre als  Journalist durchgeführt habe. Aber was ich von der alten Kartographie  jener Welt weiß, in der ich aufgewachsen bin, war schon vorher tief in  meinem Bewußtsein verankert, denn bereits als kleiner Junge hatte ich  etwas über die Sto:lo, die Katzie und die Tsawwassen gelernt.
Dies  sind die Namen der Stämme, die seit unvordenklichen Zeiten am Unterlauf  des Fraser, an seinen Nebenflüssen und in seinen Sumpfgebieten leben.  Außer ihnen gibt es hier die Musqueam, die Kwantlen, die Semiahmoo, die  Coquitlam und die Tseil-Waututh. Aufeinanderfolgende Wellen von Pocken  und anderen Infektionskrankheiten haben sie zwar dezimiert, aber ihre  Nachkommen leben immer noch hier, in den winzigen Reservaten, die ihre  alten Dörfer umgeben, um die herum sich die großen Städte an Kanadas  Westküste entwickelt haben. Einige dieser Dörfer sind Jahrtausende alt. 
Doch  noch heute werden Ihnen die Leute etwas über jenen anderen Fluß  erzählen, selbst dann, wenn sie in den Naturwissenschaften Karriere  machen, oder in den Künsten, oder wenn sie Omnibusse lenken oder  weiterhin die inzwischen stark reduzierte kommerzielle Lachsfischerei  betreiben und ansonsten ihr Leben leben und, wie alle anderen, zusehen,  daß sie über die Runden kommen. 
Die Welt ist ein Palimpsest, und  sobald eine Geschichte erzählt wird mit dem Ziel, den Dingen einen Sinn  abzugewinnen, wird diese Geschichte nur in den seltensten Fällen wieder  ganz aus der Welt verschwinden. Sobald man solche Geschichten hört,  wird man den Fluß, den wir kennen, nie wieder so sehen wie zuvor,  sowenig wie die Kosmopolis, die seine Ufer entlang gewachsen ist. Und  bis zum Ende seiner Tage werden diese Geschichten in allem widerhallen,  was einem je zu Ohren kommt. 
Die Straßen, in denen ich  aufgewachsen bin, gibt es nicht mehr. Wir waren katholische Einwanderer  aus Irland, und das Viertel, in dem wir uns niederließen, liegt heute  unter der Metrotown begraben, einem weitläufigen Komplex von  Malls, Bürotürmen, Banken, Einkaufszentren und Boutiquen. Es ist das  Epizentrum einer euroasiatischen Metropole mit über drei Millionen  Einwohnern, die über umfangreiche wirtschaftliche und kulturelle  Verbindungen nach Guangzhou, Schanghai und Hongkong verfügen. 
Selbst  während meiner Kindheit, in den Straßen oberhalb der Wohnblöcke von  Burnaby, dort, wo sich die kantonesischen Gemüsefarmen endlos am  Flußufer entlangzogen, war uns bewußt, daß schon vor uns allen etwas  verschwunden war. Die Umrisse der älteren Geschichten zeichneten sich  auf dem Boden ab. Folgte man den Eisenbahnschienen, sah man Berge von  Heidelbeer- und Lachsbeersträuchern und Prunkwindenteppiche, die die  Grabhügel längst stillgelegter Fabriken und Werke verschlangen. Sogar  das große, vor langer Zeit geschlossene Montagewerk der Firma Ford am  Kingsway wurde allmählich davon verschluckt, auch wenn seine Ruinen noch  standen. 
Am oberen Ende meiner Straße erhob sich der Labour  Temple, der aus jenen Tagen stammte, als jedermann The Red  Flag sang und der sozialistische Redner Bill Pritchard wegen  aufrührerischer Verschwörung ins Gefängnis geworfen und deshalb vom Volk  zu seinem Bürgermeister gewählt wurde. Es kam zu einem Generalstreik,  und aus den Reihen der Armen entstand die Army of the Common Good,  die ihre eigenen Münzen namens Labour Units prägte, die aber  von allen lulus genannt -wurden. 
Die alten Männer in  der Jubilee Pool Hall erzählten diese Geschichten an den  Billardtischen, doch unter all dem führte im Jahr 1969, nur einen Block  östlich vom Labour Temple, Don McIntyre in seinem Keller eine  kleine Ausgrabung durch und fand etwas, was sich als einzelner großer  Stein aus einem ganzen Kreis von alten Steinen erwies, der zu seiner  Zeit wohl einen Durchmesser von 13 Metern hatte. Es war ein Rätsel. Und  an einem schönen Frühlingstag, als ich, mit meinem Sto:lo-Freund Ernie  Crey, Kerzenfische angelte, begegneten wir unserem eigenen Rätsel.
(…)
 
   
   
   
  