LI 88, Frühjahr 2010
Haiti stirbt, Haiti lebt
Der Messias kehrte zurück, aber es half nichts. Port-au-Prince 1953-2008Elementardaten
Genre: Autobiographie, Landesporträt, Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Englischen von Uli Aumüller
Textauszug
Im Mai 2008 fuhr ich eines Abends nach Pétionville hinauf, um bei  Jean-Claude Bajeux in der ersten bewachten Wohnanlage, die ich je in  Haiti gesehen habe, Abend zu essen. Monsieur Bajeux, ein ehemaliger  katholischer Priester, hatte Graham Greene in Haiti herumgeführt, wie  ich es 1954 in Port-au-Prince mit ihm gemacht hatte. Jetzt wollte er  eine Demonstration von Müttern gegen die grassierenden Entführungen und  Morde organisieren, bei denen manchmal sogar Kinder gefoltert und  vergewaltigt werden. Ich bezweifelte, daß sich die Täter von Frauen, die  mit strenger Miene Spruchbänder wie „Mütter gegen Kidnapping“  hochhielten, zu Mitgefühl rühren lassen würden, aber er drückte eine  schwache Hoffnung aus: „In Haiti sehen alle alles.“ Er zog sein  Lid herunter. „Überall sind Augen. Es könnte sein, daß die Leute,  die die Kidnapper decken, sich dann schämen.“
Kidnapping war  früher so gut wie unbekannt. Eine landläufige Meinung besagt, der in  Südafrika im Exil lebende Messias, „Titid“, Aristide, der ständig  behauptet, er sei von der CIA, von Amerikanern und Franzosen „gekidnappt“  worden, lasse seinen Gefolgsleuten ausrichten, daß Kidnapping eine  geeignete Rache und äußerst gewinnbringend sei. Wenn das auch nicht sehr  logisch klingt, könnte es für seine früheren chimères und  andere von zuviel Crack durchgeknallte, betrunkene, überhaupt  hochaggressive Gangster doch eine Logik haben. Die Demonstration der  Mütter gegen Kidnapping scheint allerdings wenig Aussicht auf Erfolg zu  haben.
Das schon immer schwache soziale Gefüge ist zerbrochen.  Expater Bajeux, mit einem Gewissen beladen, hofft noch immer, Seelen zu  retten.
Staub und Rauch, Kummer und Leid vergiften die Luft von  Port-au-Prince, die einst süß nach flammendroten Bougainvilleen, nach  Bäumen voller Papayas und Mangos duftete, nach all den scharfen Gerüchen  tropischer Fruchtbarkeit und Fäulnis. Die Stadt und die Nation waren  arm, aber nicht hoffnungslos arm. Im Alter von zehn Jahren lief mein  Sohn Ethan, freundlich begleitet von Gelächter, Geplauder und  Neckereien, allein durch die Straßen. Der Rauch von Holzkohle bedeutete,  daß Essen gekocht wurde. Eine schlanke Berkeley-Studentin, die  ihren spirituellen Brüdern und Schwestern gern einen Rat geben wollte,  bat mich, einer Mutter, die für ihre Kinder zum Frühstück Reis und  Bohnen kochte, etwas auf Kreyòl zu sagen: „Sagen Sie ihr, daß sie es  mit dem Kohlehydratanteil übertreibt.“
Reis und Bohnen  liefern eine komplette Proteinmahlzeit, dear Lady. In Berkeley  übertreibt ihr es mit dem Tofu- und Sushianteil.
„Dieses  Land fliegt bald in die Luft. Ich bin Voodoopriester, ich weiß es.“
„Woher?“
„Meine  Mutter war eine mambo. Ich weiß es.“
„Was?“
„Alles ist  manipuliert. Die haben ihren Plan, und den führen sie aus.“
„Wer,  die? Was für einen Plan?“
Mein Freund antwortet mit dem  starren kalten Blick überlegenen Wissens, dem universellen, dominanten  Starren des Alphamännchens. Ich habe es bei den Black Panthers und den  Jüngern von Timothy Leary gesehen, und natürlich kamen auch sie, wie uns  inzwischen klargeworden ist, um die Welt zu beherrschen – oder  zumindest bestimmte Viertel von Oakland und Newark. Während dieses  Gesprächs standen wir auf der Straße vor dem schick amerikanisch  gestylten Geschäft namens Le Shop-Shop.
Es wurde einem immer  geraten, Fragen nicht so zu stellen, daß sie mit Ja oder Nein  beantwortet werden können, wie etwa: „Geht es hier zum Shop-Shop?“ Weil  die angesprochene Person immer mit Ja antworten würde, da es unhöflich  war, einem Fremden gegenüber nein zu sagen. „Wo geht es zum …?“  war die brauchbarere Formulierung.
Heutzutage, wo die  Verzweiflung Paranoia hervorbringt und geheimes Wissen – das heißt die  Anmaßung von Wissen –, könnte die Frage: „Wo geht es zum …?“ mit: „Ich  weiß es, du nicht“ beantwortet werden.
In den Zeitungen  hat es immer feierliche Leitartikel gegeben, wie den folgenden, den ich  gerade gelesen habe: „Wir leben in Zeiten großer Unsicherheit,  Angst und tiefer Nachdenklichkeit …“ Zwar kann nur ein kleiner  Prozentsatz der Bevölkerung lesen. Aber unterbrochen durch kurze  Perioden von Frohsinn, wenn eine korrupte Regierung von einer anderen  korrupten Regierung ersetzt wird, die sich noch nicht als korrupt  herausgestellt hat, spiegeln diese Worte einen fast durchgehenden Zyklus  von Leid und Unterdrückung wider.
Gott und die Götter verhießen  Frieden und Überfluß. Der ehemalige Salesianerpriester Jean-Bertrand  Aristide war eine Zeitlang ihr Vertreter auf Erden. Es war kein Zufall,  daß ihn seine verängstigten Anhänger während der Militärdiktatur von  Cédras bei seinem Codenamen „Der Messias“ heraufbeschworen.
Er  kam. Er wurde von Präsident Clintons Entgegenkommen sowie von der Angst  vor an die Strände Floridas gespülten Bootsflüchtlingen nach Haiti  zurückgebracht. Er kam, sah und verwandelte sich in einen weiteren  mißlungenen Gott.
Haitifans stellen fest, daß der Haitianer als  Einzelperson bezaubernd ist. Jede Gruppe hat allerdings die Tendenz, zum  Pöbel zu werden. Die amoklaufenden Soldaten der Armée Cannibale  können jetzt wieder Engel werden, wie es Amiot Métayer oben im Himmel  nach den Warnschüssen in seine Augen und in sein Herz wurde, obwohl sich  Der Messias, von Südafrikas Mbeki beschützt (der auch seine Hand über  Simbabwes Mugabe hielt, solange er konnte), nach der tatkräftigen  Rückendeckung durch den verstorbenen Amiot Métayer sehnen mag, dem  keiner eine Träne nachweint.
Der Voodoopriester Max Beauvoir  hatte einiges Ansehen gewonnen, denn er hatte an der Cornell  University studiert und einem amerikanischen Chronisten einen  Zombie (höchstwahrscheinlich einen katatonen Schizophrenen) geliefert,  der lange genug aus seiner Trance erwacht war, um den Schriftsteller auf  seinen „Gutgläubigers Reisen“ zu bitten, ihn nach Chicago zu bringen,  mit irgendeiner schönen Frau bekannt zu machen und zum Essen im Pump  Room Restaurant einzuladen. Das ist nicht das übliche Zombieverhalten;  Zombies sind auch nicht mehr, was sie mal waren.
Max Beauvoirs  Frau rief einmal an und bat mich, ihren Sohn aus dem Gefängnis zu holen.  (Häufig kommende amerikanische Haitibesucher werden für CIA-Agenten  gehalten, die Sachen regeln.) Jetzt hat Monsieur Beauvoir gemerkt, daß  starke Führer in Mode sind, also hat er sich selbst zum „Großen  Voodoopriester von Haiti“ gekürt, zu so etwas wie einem Voodoopapst,  obwohl kein Kolleg von Voodookardinälen ihn ernannt hat.
Einer  seiner Rivalen ist über Beauvoirs Hybris empört. Er hat die  Angewohnheit, Besuchern bei der Begrüßung mitzuteilen: „Willkommen  in Haiti, ich bin der größte Voodoopriester, nicht dieser andere Kerl.“
Rationales  Verhalten schwindet im gleichen Maße wie die Versorgung mit Nahrung.  Ein Fremder drang in ein Haus in Bourdon ein und verkündete: „Ich  bin hier, um dich umzubringen.“ „Wieso?“ Die Frage  irritierte den Killer. „Frag mich nicht. Ich weiß es selbst nicht.  Ich tue nur meine Arbeit.“
Ein alter Freund erzählt mir  kichernd, daß er jemandem, den er nicht leiden kann, einen Streich  gespielt hat. „Ich habe ihn geoutet! Im Internet! Als CIA-Agent!“
„Ist  er einer?“
Er zuckte die Achseln. „Ich habe sein Leben  ruiniert. Jetzt ist alles, was er tut, zur Tarnung. Zur Tarnung! Im  Internet!“
„Ist er einer?“ wiederholte ich.
Nichts  als ein Lächeln stiller Genugtuung auf dem Gesicht meines sonst so  gesprächigen Freundes.
Manche der laufenden Ereignisse erscheinen  einfach karnevalesk, aber es kommen Menschen dabei um. Die Polizei ist  oft schlimmer als keine Polizei (Korruption); genauso Gerichte  (vorherige Klammer wiederholen). Ohne Premierminister, wurde das Land im  Juni 2008 nicht regiert. Präsident Préval, ein freundlicher  Diplomlandwirt, früher ein Protegé von Aristide, ging wohlweislich auf  Distanz zu dem unsauberen Exilierten. Aber nicht zu weit. Das Parlament  erfreute sich an Ferien, auch wenn die ums Überleben Kämpfenden nie  Ferien machen können. Die hiesigen Zeitungen haben eine Kurzversion für  die allgemeine Lage, die sie wie einen Schlachtruf wiederholen: La  pauvre Haïti. Armes Haiti.
Es fand jedoch eine überfüllte  Buchmesse statt, auf der viele frühere und zukünftige Kandidaten für das  Präsidentenamt bereitwillig ihre Bücher signierten. Es heißt, daß jeder  Haitianer mit einem höheren Schulabschluß als der Mittleren Reife  meint, er verdiene eine höhere Stellung als die eines Senators; wenn  schon nicht Präsident, dann Schriftsteller.
Früher gab es im Nouvelliste  eine Zusammenfassung des US-Börsenberichts, doch mangels Interesse  wurde dieser Service eingestellt. Nachrichten von der Literatur- und  Kunstfront hingegen haben zugenommen, genauso wie die Berichterstattung  über die boomende Mordrate: „… die drei (3) Söhne von Viola Robert“.  Der Reporter war sorgfältig darauf bedacht, sowohl das Wort „drei“ wie  die Zahl „3“ zu nennen, wonach er vorschlug, die Polizei solle gut  aufpassen. Was sie tun sollte, wenn es im Interesse von höheren Chargen  als einer Mutter ist. Vielleicht nach dem bevorstehenden langen  Wochenende …
An diesem Tag des Jahres 2008 kam ich infolge eines  begeisterten, aber hastigen Abendessens zu dem Schluß, daß es keine  Atheisten gibt, die in Drittweltländern über Kloschüsseln hängen.
(...)
 
   
   
   
  