LI 85, Sommer 2009
Ruandas Hoffnung
Das Leben mit der Erinnerung und die schwierige VersöhnungspolitikElementardaten
Genre: Investigation, Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Englischen von Daniel Bickermann
Textauszug
ALS ich 1995, ein Jahr nach dem Völkermord, begann, durch Ruanda zu  reisen, war dieses Land praktisch ausgemerzt: blutverschmiert und  geplündert; Gruppen von Waisen irrten durch die Hügellandschaften,  vergewaltigte Frauen hausten in Ruinen; die Menschlichkeit des Landes  war verraten, seine Infrastruktur zerschlagen, seine Wirtschaft  demontiert, seine Regierung zusammengebastelt; ein Besatzungsstaat  voller Soldaten, sein Justizsystem korrumpiert, seine Gefängnislager bis  an den Rand gefüllt mit Mördern, und weitere Mörder liefen noch frei  herum, jagten die Überlebenden und wurden selbst gejagt von  Rachemördern; die zerschlagene Armee campierte mit den Milizen des  Völkermords und anderthalb Millionen ihrer Anhänger an der Landesgrenze  und erhielt Hilfe vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen,  während sie schworen, zurückzukehren und ihre Arbeit zu vollenden.
Innerhalb  von hundert Tagen waren nach dem 6. April 1994 beinahe eine Million  Menschen, die der Tutsi-Minderheit angehörten, im Namen einer Ideologie  namens Hutu Power abgeschlachtet worden. Gefangen zwischen der  Erinnerung an dieses Massaker und der Angst, daß es sich wiederholen  könnte, fühlte sich Ruanda oft wie ein unrettbares Land an. Wenn die  Ruander heute auf diese ersten Jahre nach der Katastrophe zurückblicken,  sagen sie: „Am An-fang.“
Am 15. Jahrestag des  Völkermords ist Ruanda eines der sichersten und geordnetsten Länder  Afrikas. Seit 1994 hat sich das Bruttoinlandsprodukt beinahe  verdreifacht, während die Bevölkerung um 25 Prozent auf mehr als 10  Millionen gewachsen ist. Es gibt eine staatliche Gesundheitsversorgung  und ein ständig verbessertes Bildungssystem. Die Tourismusindustrie  boomt und zieht viel ausländisches Kapital ins Land. In der Hauptstadt  Kigali fegen Frauen in Kleid und Handschuhen mit ihren Rutenbesen bei  Sonnenuntergang die Straßen. Plastiktüten wurden abgeschafft, um das  Müllproblem unter Kontrolle zu halten und die Umwelt zu schützen.  Breitband-Internetverbindungen sind in den Städten weit verbreitet, und  die Kabel werden bereits in die ländlichen Gebiete verlegt.  Mobiltelefone haben fast flächendeckend Empfang. Die Verkehrspolizei  kontrolliert die Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen und die  gesetzliche Gurt- und Motorradhelmpflicht. Regierungsbeamte müssen früh  um sieben Uhr an ihrem Arbeitsplatz erscheinen. Seine Regierung ist die  einzige der Welt, bei der die Frauen im Parlament in der Mehrheit sind.  Man sieht fast nirgends mehr Soldaten. In Kigali leben inzwischen fast  eine Million Menschen – ungefähr doppelt so viele wie noch vor zehn  Jahren – und es sind unablässig Bauarbeiten für neue Wohnungen,  Bürohäuser, medizinische Einrichtungen, Einkaufszentren, Hotels,  Verkehrseinrichtungen, ausländische Vertretungen und Straßen im Gange.  Früher stand an einem der großen Verkehrsknotenpunkte eine Werbetafel,  die von Maschinengewehrkugeln durchlöchert war und dunkles Bier von  Guinness mit dem Slogan „Die Kraft der Liebe“ bewarb; heute  verkündet ein neues Schild neben der Straße: „Zahl deine Steuern –  Hilf beim Aufbau von Ruanda – Sei stolz“. Die meisten der  Gefangenen, die wegen des Völkermords angeklagt oder verurteilt worden  waren, sind inzwischen freigelassen. Die Todesstrafe wurde abgeschafft.  Und Ruanda ist die einzige Nation, in der Hunderttausende Menschen, die  am Massenmord beteiligt waren, sich in jeder Gesellschaftsschicht unter  die Familien ihrer Opfer gemischt haben.
„So weit, so gut“,  konstatiert Paul Kagame, Ruandas Präsident. Kagame ist 51 Jahre  alt und so dünn, daß es auf offiziellen Photographien von Staatsbesuchen  so aussieht, als würde der Gast mit einer Pappfigur posieren. Er führte  einst die Rebellentruppen an – die Ruandische Patriotische Front  (RPF) –, die den Völkermord beendeten. Seitdem entscheidet er über  Ruandas Schicksal, und seine Feinde halten ihn ebenso wie seine  Bewunderer für eine der beeindruckendsten politischen Persönlichkeiten  unserer Zeit. „15 Jahre“, erzählt er. „Das klingt  nach einer langen Zeit. Aber wenn man darüber nachdenkt und über den  Wert unserer Nation – und vielleicht darüber, wie weit unser Land  inzwischen gekommen ist und wie weit es hätte kommen sollen –, ist das  gar nicht so viel.“
Kagame, der üblicherweise sogar von der  ruandischen Presse als autoritär bezeichnet wird, wurde 2003 von mehr  als 93 Prozent der Stimmen wiedergewählt, da er praktisch ohne Gegner  antrat. Und doch sagt er, daß „alles umsonst“ gewesen sei, wenn  es ihm nicht gelingen sollte, die staatlichen Institutionen so  aufzubauen, daß er 2017, wie von der Verfassung vorgesehen, zurücktreten  und einen friedlichen Machtwechsel vollziehen könne. In der  Zwischenzeit regt er sich über westliche Beobachter auf, die nur das  beurteilen wollen, was alles noch nicht erreicht wurde, anstatt die  Fortschritte zu beachten. Seine Haltung dazu ist: Wer redet denn da? „Ich  wünschte, es gäbe einen Weg, an der Uhr zu drehen und die Zeit  schneller vergehen zu lassen“, sagt er. „Ich würde es machen.“ Seiner  Ansicht nach hat der Westen keinerlei Recht, Ruanda zu belehren,  nachdem das kolonialistische Erbe direkt in den Völkermord geführt hat  und nachdem einige Westmächte (vor allem Frankreich und der Vatikan) die  génocidaires vor, während und nach dem Massaker unterstützten  und der Rest der Westmächte keinen Finger rührte, um das Morden zu  unterbinden. Wie die meisten seiner früheren Kameraden aus der RPF wuchs  Kagame im Exil in Uganda auf, als Flüchtling vor früheren Pogromen  gegen die Tutsi. Verachtung liegt in seiner Stimme, wenn er von  Kritikern seiner Menschenrechtsbilanz redet, die doch jahrzehntelang die  ethnische Apartheid in seiner Kindheit und Jugend als legitime Form der  Mehrheitsherrschaft akzeptiert hatten.
„1977 kam ich das  erste Mal in mein Land“, erzählt er. „Ich war noch sehr jung  und besuchte Verwandte, die inzwischen im Völkermord umgekommen sind.“ Als  Jugendlicher kannte er Ruanda nur aus den Erinnerungen seiner  Fa-milienmitglieder und aus den Gerüchten anderer Exilanten. Er war vier  Jahre alt, als seine Familien floh, und 19, als er heimlich für diesen  ersten Besuch zurückkehrte, um sich selbst einen Eindruck vom Land zu  machen. „Sogar in diesem Alter sah ich die Unterdrückung“,  sagte er. „Ich erkannte die Panik und die Frustration und  Verzweiflung in den Menschen, die ich besuchte … Ich war nur ein  Schüler, verstehen Sie, und machte gerade meinen Abschluß, und das waren  meine Tante und mein Onkel. Aber sie wurden jeden Tag überwacht, um  festzustellen, wer sie besuchte, wem sie Briefe schrieben und wer ihnen  zurückschrieb. Einerseits waren sie natürlich glücklich, mich zu sehen,  andererseits wollten sie, daß ich verschwinde und sie in Ruhe ließ. Denn  hätte man herausgefunden, daß ich aus einem Flüchtlingslager in Uganda  gekommen war, hätte man sie sehr einfach verschwinden lassen können.“
Zwischen  1995 und 2000 traf ich Kagame fünfmal; bei jeder Gelegenheit dauerte  das Interview Stunden, und oft erzählte er dabei von seiner Jugend im  Exil und wie diese Erfahrung des Ausschlusses ihn als jungen Mann zum  bewaffneten Kampf geführt habe. Aber wenn er von sich selbst als Tutsi  sprach, dann nur als Identität, die man gegen ihn verwendet habe,  niemals als affirmative Erklärung einer Zugehörigkeit. Selbst als er in  Ruanda an die Macht kam, wurde die Tatsache, daß er ein Tutsi war, noch  gegen ihn verwendet. Es markierte ihn als Angehörigen einer Minderheit,  und für jene, die weiterhin glaubten, daß alle ruandische Politik  stammesbezogen sein müsse, beraubte ihn das seiner Legitimation. Kagame  wollte nicht als Tutsi-Präsident angesehen werden, er wollte, daß man  ihn als Präsident aller Ruander akzeptiert.
Emmanuel Ndahiro,  einer von Kagames engsten Beratern und inzwischen Leiter des  Geheimdienstes, erzählt mir, wie ermutigt er von der Wahl Barack Obamas  sei. „Obama repräsentiert Ideen und eine Art zu denken. Er  repräsentiert nicht nur die Schwarzen“, sagt Ndahiro und fragt: „Also  warum kann nicht ein Tutsi in einem Land Präsident sein, in dem  mehrheitlich Hutu leben?“ Der Völkermord erschwerte Kagames  Kandidatur– und machte es noch wichtiger, daß er gewann. Als Kagame von  dem Terror spricht, den seine Tante und sein Onkel als normal hinnehmen  mußten, wüßte ich gerne, ob er sicher sei, daß die Hutu in den  ländlichen Gebieten seines Landes sich nach dem Völkermord nicht selbst  unterdrückt fühlten. „Mich sollten Sie das nicht fragen“,  antwortet Kagame. „Gehen Sie und fragen Sie die Leute. Die sagen  Ihnen ihre Meinung selbst.“ Er erklärt mir seine Sicht der Dinge  trotzdem: „10 Millionen Menschen leben heute in diesem Land  glücklicher als jemals zuvor in unserer Geschichte. Ruanda geht es  besser, viel besser als je zuvor. Daran besteht für mich kein Zweifel.  Schauen Sie sich um, reisen Sie durch das Land, besuchen Sie die Dörfer.  Wenn Sie in den Augen der Menschen keine Hoffnung sehen, dann soll ich  ein Lügner sein.“
(...)
 
   
   
   
  