LI 74, Herbst 2006
Seelische Schramme
Stofftiere und Stacheldraht - zwei Räume im Kopf von SoldatenElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Englischen von Jürgen Ghebrezgiabiher
Textauszug
Jeden Tag, den wir mit den Soldaten verbrachten, fuhren wir für ein paar  Minuten zu einem Beobachtungsposten der Armee in der Nähe einer der  Straßensperren rund um Nablus.
Vom Dach des Hauses am Dorfrand  überblickte man die biblische Landschaft: das große -Talbecken, einen  felsigen Gipfel und in der Ferne die weißen Türme der Stadt.  Palästinensische Männer, Frauen und Kinder schleppten sich unter der  brütenden Sonne die staubige Straße entlang: eine alte Frau in blauem  Samtkleid, ihr Gesicht bleich und verschwitzt; eine Frau mit einem  kranken Kind in ihren Armen, das im Fieber die Augen rollte; ein  Wasseringenieur auf dem Weg nach Nablus, um einen Vertrag zu  unterzeichnen; ein Krankenwagen des Roten Halbmonds mit Arzt und Fahrer.
Auf  dem Dach des Hauses: Sandsäcke, Tarnnetze, eine israelische Flagge.  Hinter der Mauer im Garten: Müll, Pizzakartons, ein Pappkamerad, die  Brustgegend markiert. Vor neun Monaten hatte die Armee das Obergeschoß  und das Dach bei den Turabis besetzt. Das Haus der Familie lag am Rand  des Dorfes Tsara. Von hier aus konnte man alle von Nablus ausgehenden  Straßen beobachten. Pech für die Turabis – das Haus war der  ideale Wachturm. Eine Woche vor der Hochzeit eines ihrer Söhne rückten  die Soldaten an und quartierten sich in der Wohnung ein, die die Eltern  für ihn und seine Braut im Obergeschoß gebaut hatten. Ein  Dreivierteljahr später waren die beiden jungen Leute immer noch nicht  verheiratet, ihre Wohnung immer noch besetzt. Betonplatten versperrten  die Einfahrt, Passanten konnten jederzeit überprüft werden, und  diejenigen, deren Gesichter den Militärs nicht gefielen, mußten ihre  Ausweise in eine seitlich aufgeschlitzte Plastikflasche schieben, die  dann an einer Schnur aufs Dach gezogen wurde: Funküberprüfung der  Personalien. Die Armee hatte der Familie versprochen, die Kosten für  Wasser und Strom zu übernehmen. Die Rechnungen waren da, doch Geld  hatten die Turabis noch nicht gesehen. Obendrein stempelte sie die  ständige Militärpräsenz für einige Leute im Dorf zu Kollaborateuren ab.  Nachts lebten die Familie und ihre Kinder in Angst und Schrecken; der  dreiundzwanzigjährige Sohn Naim erzählte, daß oben, über ihren Köpfen,  geschossen werde.
Die Tür des Seiteneingangs war verschlossen,  und nicht einmal die Mutter durfte die Treppe in ihrem eigenen Haus zur  Wohnung der jungen Brautleute hinaufsteigen. Sie bat mich, ihr zu  berichten, welche Schäden die Soldaten dort oben angerichtet hätten.
Als  Avirams Soldaten eines Morgens anrückten, um die andere Kompanie  abzulösen, fanden sie das Haus völlig verwüstet vor. Im Treppenhaus  gammelte der Müll, die Fußböden starrten vor Dreck.
„Was ist  denn das für ein Saustall!" wetterte ein Feldwebel mit  Tätowierungen am ganzen Arm.
„Und ihr! Kommt zwei Stunden zu  spät! Wißt ihr eigentlich, was das heißt, zwei Wochen lang auf diesem  Dach hier festzusitzen?" erwiderten die Soldaten, die abgezogen  wurden.
„Nächstes Mal wartet ihr nicht, bis ihr geweckt werdet",  befahl der Zugführer den ankommenden Soldaten, „sondern stellt  gefälligst euren Handy-Alarm! Und für den Rest hier gilt: Keiner verläßt  diesen Ort, bevor nicht Klarschiff gemacht worden ist!"
Avirams  Männer traten ab, legten sich auf die Pritschen oder saßen rum und  schauten Videos, die sie sich im Heimaturlaub am Wochenende geliehen  hatten. Da hockten sie und glotzten die britische Liebeskomödie Notting  Hill und die US-amerikanische Serie Friends.
So gesehen wirkte  das Feldlager von Avirams Soldaten wie die Großausgabe eines  unaufgeräumten Jugendzimmers, in das völlig überforderte Eltern  hereinstürmen und schreien: „Räum endlich dein Zimmer auf! Hör auf,  dieses Zeug in dich reinzustopfen! Wenn ich dich noch einmal beim  Rauchen erwische! Verdammt noch mal, was ist denn das für ein Tattoo an  deinem Arm? Wer hat dir das eigentlich erlaubt? Steh auf! Du kommst zu  spät zur Schule!"
Sah man jedoch dieselben Soldaten hier im obersten  Stock der Turabis herumlümmeln, machte das einen ganz anderen Eindruck,  ja, man sah die Sache mit den Augen der Familie, deren Heim von  Halbstarken heimgesucht und verwüstet wurde, die - im Gegensatz zu den  Turabis - kugelsichere Westen und Helme hatten, falls geschossen wurde;  die schöne warme Jacken besaßen, falls es kalt würde; die ihre  Springerstiefel einfach auf den Tisch legten, die Wände vollschmierten,  ihren widerlichen Müll in den Garten schmissen und einen so behandelten,  als existierte man gar nicht, wenn sie zum Seiteneingang, den man für  seinen geliebten Sohn und dessen Braut gebaut hatte, hinausgingen oder  hereinkamen. Sie schauten einem nie in die Augen und wußten nichts, rein  gar nichts von einem. Für die war man einfach nur ein Haufen „oller  Stühle", die man kurzerhand vor die Tür stellt, wenn's denn gerade  beliebt.
Ich gab mein Bestes, die Soldaten zu verstehen.
Im  Lager kampierten die Russen mit den Russen, die Äthiopier mit den  Äthiopiern, und die religiösen Soldaten hingen auch zusammen. Es gab  eine Soldatin. Die Vorschriften verboten Avirams Sekretärin, in einem  Raum mit den Jungs zu schlafen. Für mich galt dasselbe. So marschierten  wir abends an einer Reihe von Zäunen, Toren und Wachposten vorbei, um  zum Versorgungsbataillon zu gelangen. Dort gab es einige junge  Soldatinnen. Ihre Behausungen schmückten Stofftiere, Bilder von  Einhörnern an der Wand und Spiegel, vor denen sich die Mädels jeden  Morgen versammelten, um ihr Haar zurückzubinden und sich die Wimpern zu  tuschen.
Die Jungs waren Kinder, aber diese jungen Frauen waren  kleine Mädchen, ausgesetzt, mitten im Westjordanland. Natürlich waren  sie in Wirklichkeit 18 oder 19 Jahre alt, sahen aber viel jünger aus,  und mir schien, daß zwei Seelen in ihrer Brust wohnten: Die eine träumte  von Frieden, und Frieden bestand aus Wolken, Einhörnern, Schmusetieren  und anderen kindlichen Phantastereien. Die andere hatte sich hinter  Stacheldraht verschanzt, führte die gleichaltrige Palästinenserin ab,  die an einer Straßensperre versucht hatte, einen Soldaten  niederzustechen, weil ein paar Wochen zuvor ihr Bruder von einem  Soldaten aus dem Lager der Fallschirmjäger ermordet worden war.
Diese  Mädchen wußten im Grunde genommen nicht, was Frieden bedeutet. Sie  verstanden nicht, daß es nicht nur die bloße Abwesenheit von Krieg ist.  Irgend jemand würde sich an einen Tisch setzen und ein Papier  unterzeichnen, und das wäre dann der Frieden. Aber was auf dem Papier  stehen würde, da waren sie völlig überfragt.
Einige waren recht  offen. Sie erkundigten sich nach den Gefangenen, die sie gemacht hatten,  versuchten zu verstehen. Andere hatten Gefallen an ihrer Arbeit. Ein  kleines Mädchen von der Militärpolizei kam gerade an – winziges  Top, Jeans, flacher, brauner Bauch, Nabel gepierct - und zog einen  roten Koffer auf Rollen hinter sich her, als mache sie sich gerade zum  Flugplatz auf, um in den Urlaub zu fahren. Alle Soldaten steckten die  Köpfe aus ihren Hütten und machten Stielaugen. Ihre Aufgabe war es, die  Frauen am Checkpoint zu durchsuchen, da sich die palästinensischen  Männer beschwert hatten. Sie wollten nicht, daß israelische Männer ihre  Frauen und Töchter anfaßten und ihre Ehre besudelten.
(...)
 
   
   
   
  