LI 86, Herbst 2009
Postproduction Berlin
Kulissenkult und gutes Leben im Jurassic Park des realen SozialismusElementardaten
Textauszug
(...) Berlin war das Nervenzentrum des Kalten Krieges. Wie  hast du die Auflösung dieser Hochspannungszone wahrgenommen? Berlin war  ja nicht nur ein natürlicher Konfrontationsraum des kalten Krieges,  sondern wurde künstlich ernährt; es war ein Ort der Finanzinjektionen  und Subventionen, es wurde in Selbstbilder, Feindbeschreibungen,  Drohformeln, Sprachgewohnheiten, in Symbolik und Mythologisierung  investiert, es war ein bestens ausgestatteter Ausstellungsraum der  jeweils eigenen Überlegenheit. Intellektuelle und Künstler haben in  diesem Schaufenster des Westens recht behaglich und privilegiert leben  können.
Das gilt für beide Seiten. Auch die DDR pflegte die  Avantgarde mit Bertolt Brecht. Brecht war wahrscheinlich der radikalste  Avantgardeautor in Deutschland, und er lebte in der DDR. Einige Wochen  nach dem Fall der Mauer kam ich nach Berlin und bin zu Fuß von West nach  Ost gegangen, Unter den Linden entlang. Es war ein denkwürdiger  Spaziergang. Die Straße war absolut leer, nirgends Menschen, und ich  fand mich völlig unvorbereitet in dieser Situation. Alles war leer,  keine Cafés, keine Fußgänger, kein Leben auf den Straßen, überhaupt  nichts – und da war sie, die merkwürdige Atmosphäre der Neuen  Sachlichkeit, Bilder aus den zwanziger, dreißiger Jahren, leere Straßen,  als ob man plötzlich in ein Gemälde hineinspaziert. Ich ging weiter und  weiter, und dann habe ich plötzlich die Museumsinsel entdeckt, ohne zu  wissen, daß es die Museumsinsel ist. Weiterhin war alles menschenleer,  alle Museen standen offen, es gab keine Eingangskontrollen, ich bin  einfach von einem Museum ins andere gegangen, schließlich ins  Pergamonmuseum, zum Pergamonaltar, vor dem ich nun völlig allein stand.  Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir, und jemand, in dem ich einen  Kulturfunktionär aus Westdeutschland erkannte, sagte: „Jetzt kommen die  aus dem Westen und zerstören alles.“ Ich fragte: „Und warum werden sie  alles zerstören?“ Er antwortete: „Weil es für Behinderte nicht geeignet  ist. Sie stellen das fest und zerstören alles.“ Das war der erste  Kommentar zum Mauerfall, den ich hörte.
Das Pergamonmuseum  muß doch in dieser Situation eine ungeheure Entdeckung gewesen sein.
Ja,  ich war niemals zuvor dort gewesen. Nach der Immigration habe ich mich  als Teil des Westens gefühlt und wußte nicht, was es im Osten alles  gibt. Nun war ich fasziniert von der unglaublichen künstlerischen  Qualität, es war wie ein Gespenst des 19. Jahrhunderts. Alles war wie im  19. Jahrhundert, und ich habe gedacht, daß der Sozialismus als solcher,  abgesehen von den neuen modernistischen Plattenbauten, eine riesige  Kühlkammer für die Kultur war … Aufbewahrung in gefrorener Form. Was es  da zu sehen gab, wirkte schon etwas angefault, und es war klar, daß das,  was erhalten war, sehr schnell zerfallen würde. Das vergesse ich nicht.
Ich  erinnere mich noch an eine andere merkwürdige Begebenheit, die  surrealistisch anmutete. Das war am folgenden Tag. Ich war eigentlich  gekommen, um mit Ilja Kabakow zu arbeiten. Wir gingen nach Ostberlin,  standen an der Friedrichstraße, als ein Mann, Russe, vermutlich ein  Deserteur, auf jeden Fall jemand, der abhauen wollte, auf uns zu kam und  auf Russisch fragte: „Wie kommt man von hier nach Westberlin?“ Kabakow  hat es ihm erklärt. Der Russe hat zugehört, eine Pause gemacht und dann  noch einmal gefragt: „Wie kommt man von hier nach Westberlin?“ Kabakow  hat es ihm noch einmal erklärt. Nach einer kurzen Pause hat er ein  drittes Mal gefragt, woraufhin ich sagte: „Ilja, also jetzt reicht es.  Gehen wir.“ Plötzlich hat der Russe mich wie vom Blitz getroffen  angeschaut und gesagt: „Aber Sie sprechen auf Russisch – ich habe die  ganze Zeit gedacht, Sie sprechen auf Deutsch.“ Er war so verwirrt, daß  er nicht verstanden hat, daß wir nicht auf Deutsch, sondern in seiner  eigenen Sprache gesprochen haben. Für mich war das wie eine Metapher  dieses historischen Zustands.
Eine Verwirrung in bezug auf  die eigene Ortsbestimmung.
Ja, wie Hamlet sagt und Derrida,  der in Marx’ Gespenstern damit spielt, daß die Zeit tatsächlich  unterbrochen ist, man sich für einen Augenblick in einer Pause des  Stillstands befindet, bevor alles wieder beginnt, sich zu bewegen. Wie  bei einer Filmvorführung, bei der man Pause macht, weil die Filmgeräte  beschädigt sind, der Film plötzlich stehenbleibt, dann wieder läuft,  weil man die Maschine repariert hat. Man hat das Gefühl, daß Gespenster  hineinspuken, in diese Pause zwischen einer ersten Filmsequenz und einer  zweiten, die zu laufen beginnt, wenn diese Maschine wieder zu laufen  beginnt.
Man selbst ist in diese Pause hineingestolpert, aber  wer hat die Filme dann weiterlaufen lassen?
Irgendwann  haben die Menschen angefangen, wieder zu arbeiten. In dem Augenblick, in  dem man versteht, daß man ein Frühstück braucht, ein Abendessen, eine  Arbeit, wird man daran erinnert, daß man etwas benötigt, und dann löst  sich die Erstarrung.
Hattest du damals eine Vorstellung, was  sich aus dieser Phase entwickeln würde? Vor 25 Jahren konnte man das Taj  Mahal in Indien ungehindert besuchen, sich in den Park legen und  meditieren, heute steht man in einer Touristenschlange, zahlt Eintritt,  alles ist kontrolliert, kalkuliert, kommerzialisiert. Auch in der DDR  wirkte vieles damals gleichermaßen zeitenthoben wie ökonomiefremd.
Alles  war ökonomieenthoben, denn letztendlich hatte man diese Freiheit des  gemeinsamen Eigentums, einem gehörte nichts und alles. Man hatte diesen  freien Spaziergang. Man hatte unendliche Zeitreserven. Dann wurde  schnell alles privatisiert und restrukturiert und organisiert und  begrenzt, und dieser Freiraum und diese Solidarität lösten sich auf. Die  Menschen besaßen eine große Solidarität – das spürte man in  Ostdeutschland wie in Osteuropa generell noch eine Weile, ein gewisses  Gefühl für geteiltes Schicksal. Nicht so im Westen, wo jeder überzeugt  ist, sein Schicksal sei von dem der anderen unabhängig. Obwohl man mit  dem Schicksal unzufrieden war, gegen dieses Schicksal revoltiert hatte,  teilte man in sozialistischen Ländern lange Zeit mit anderen sowohl das  Schicksal als auch die Revolte. Diese Individualisierung und das  Empfinden, in der Welt allein gelassen worden zu sein und nichts mit  anderen gemeinsam zu haben, mußte man noch verinnerlichen, und man weiß  nicht, inwieweit die Leute das gelernt haben, wenn man sieht, daß sie  sich nach wie vor an Ethnizität, Nationalismus klammern, wobei sie  mittlerweile wissen müßten, daß das alles nicht hilft. Zunächst haben  die Leute im Osten geglaubt, daß der Westen dem Wesen nach etwas ist,  das ihrem eigenen Staat gleicht, nur eben reicher. Die Menschen haben  zunächst nicht verstanden, daß dieser Reichtum zwar da ist, aber dadurch  produziert wird, daß man im Westen stärker versklavt wird und viel  unerbittlicher gezwungen ist, zu arbeiten und sich durch Arbeit mehr  auszubeuten oder ausbeuten zu lassen, als im sozialistischen Osten. Das  Hauptproblem des Sozialismus bestand darin, daß er die Leute nicht genug  ausbeutete. Deswegen waren die sozialistischen Länder nicht so reich.
„Nicht  ausbeutete“ in dem Sinne, daß nicht genug Kapital akkumuliert wurde …
Es  konnte nicht genug Kapital akkumuliert werden, weil zuwenig gearbeitet  wurde. Die meisten Menschen haben wenig gearbeitet. Viele haben in der  Arbeitszeit halb geschlafen oder gefrühstückt, Kaffee getrunken,  eingekauft. Sie waren nicht gezwungen, systematisch zu arbeiten, nicht  einmal in ihrer Arbeitszeit. Im Westen wiederum kann nur der überleben,  der nicht nur in seiner Arbeitszeit arbeitet, sondern auch außerhalb  dieser Arbeitszeit. Die Menschen litten ja im Sozialismus nicht unter  extremer Armut oder materieller Not. Sie hatten zu essen, sie hatten  eine vernünftige Krankenversorgung, sie konnten sich in Osteuropa auch  bewegen. Sie litten aber an einem Entzug ästhetischer Qualitäten und  konsumptiver Diversität, also an der Vielfalt der Wahlmöglichkeiten in  bezug auf Produkte, Konsum und Reisemöglichkeiten.
Was waren  deiner Wahrnehmung nach die Hauptmotive für die Revolte, war es eher das  Materielle oder das Freiheitsbedürfnis?
Auch im Sozialismus  konnte man sich den anderen Leuten überlegen fühlen und somit sowohl  materiell wie auch geistig zufriedengestellt sein. Schon Freud hat  gelehrt, daß die kleinen Unterschiede für Menschen größere Bedeutung  haben können als große Unterschiede. Hierarchien gab es auch in  Ostländern, es gab Neid, Konkurrenz oder Freude daran, daß man etwas  hat, was die anderen nicht haben. All diese niedrigen Instinkte wurden  befriedigt. Was nicht befriedigt wurde, war die Reiselust, man fühlte  sich wie in einem Gefängnis, hatte das Gefühl, eingesperrt zu sein. Und  das widerspricht der menschlichen Natur. Keiner versteht, warum man  diesen Schritt tun darf und einen zweiten darüber hinaus plötzlich nicht  mehr. Das war auch nicht erklärbar. Man hatte das Gefühl, man kann sich  mit anderen nicht vergleichen, weil man nicht weiß, wie sie leben, und  weil diese nicht wissen, wie man selbst lebt. Man war abgeschnitten, man  vermutete, daß man von etwas, das eine Chance bieten könnte,  willkürlich isoliert war; das ist kein gutes Gefühl.
Irgendwo am  Anfang des Leviathan reflektiert Thomas Hobbes das Wort Freiheit. Er  sagt, viele meinten, wahre Freiheit sei die Freiheit des Denkens, die  Freiheit des Sprechens, die Freiheit des Gewissens. Aber das alles sei  nicht richtig, die wahre Freiheit sei die Freiheit der Bewegung des  menschlichen Körpers im Raum. Wir sind letztlich alle Materialisten, und  die geistige Wahrheit genügt uns nicht. Erst wenn wir uns frei bewegen  dürfen, fühlen wir uns frei. Materialistisch gesehen ist der Unterschied  zwischen Freiheit und Konsum nicht so groß. In beiden Fällen geht es  darum, sich durch die Welt zu bewegen, in der einen oder anderen Form.  Denken reicht nicht aus, reine Imagination reicht auch nicht aus.
(...)
 
   
   
   
  