LI 75, Winter 2006
Todeskollektivierung
Ein Dialog über kryptokommunistische Motive in den ReligionenElementardaten
Textauszug
Carl Hegemann: Wir können über den Tod keine Meinung  haben, weil der Tod unabhängig von unserer Meinung eintritt?
Boris  Groys: Einfach deshalb, weil der Tod außer Reichweite der  bewußten Reflexion liegt. Der Tod ist kein Ereignis in unserem Leben,  wie es das Sterben oder der Verlust der anderen ist; der eigene Tod  entzieht sich unserer Reflexion und der empirischen Erfahrung. Und was  sich der Reflexion und auch der empirischen Erfahrung entzieht, kann  nicht Gegen-stand einer Meinung werden. Der eigene Tod ist kein Ereignis  in unserem Leben, und das heißt, er unterliegt nicht der Souveränität  des Denkens und nicht der empirischen Erfahrung. Zu dem, wovon wir aber  weder eine reflexive noch eine empirische Erfahrung haben, können wir  jedoch ein religiöses Verhältnis entwickeln, in dem wir artifiziell oder  übersinnlich oder übernatürlich den Tod markieren können durch ein  Ritual. Wir vollziehen etwas, das sich genauso wiederholt wie der Tod.  Wir bilden eine Analogie zwischen der Wiederholbarkeit des Todes und der  Wiederholbarkeit des Rituals. Das Ritual ist insofern das gleiche wie  der Tod, weil es sich wie der Tod reproduzieren läßt, ohne daß wir sagen  könnten, wozu und warum.
Haben wir das festgestellt, können wir  sagen, daß dieses Ritual im Kapitalismus als solchem eigentlich nicht  möglich ist. Ich bin überzeugt, daß der Kapitalismus den Tod nicht  reflektieren kann und allein das Prinzip der Selbsterhaltung des  Kapitals oder des einzelnen, das Prinzip des Habeas Corpus, das  Prinzip der Sicherheit oder das Prinzip der Biopolitik reflektiert.
Der  Kapitalismus stützt sich auf natürliche biologische Gründe und nicht  auf thanatologische Abgründe. Er konzentriert sich auf das Lebendige und  auf das Leben. Wenn das so ist, wird, wie Foucault festgestellt hat,  der Tod im Kapitalismus privatisiert. Wir haben kein gesellschaftliches  Ritual, das dem Tod entspricht, keine artifizielle künstlerische  Verrichtung, die den Tod im gesellschaftlichen Leben abbildet, das  heißt, wir haben nur Verrichtungen, die den Tod im privatisierten Ritual  zum Beispiel des Begräbnisses abbilden. Im Kommunismus hingegen haben  wir diese Rituale.
Hegemann: Für mein  traditionelles Verständnis haben wir diese Rituale im Kommunismus nicht.  Denn der Kommunismus lebte von der Absurdität, daß sterbliche Menschen  glaubten, ein Paradies auf Erden schaffen zu können in der Gewißheit –  die sie offensichtlich verdrängen mußten –, daß sie selbst  davon nichts mehr haben werden, weil sie dann längst tot sind. Für mich  war der Kommunismus fast identisch mit dem Grundsatz: Die eigene  Sterblichkeit kann nur verdrängt werden, wenn der Kampf siegreich sein  soll. Den Kampf für den Kommunismus kann man nur führen, wenn man die  eigene individuelle Sterblichkeit oder, wie Horkheimer sagte, "das  schlechthin antiutopische Faktum des eigenen Todes" ausklammert.
Groys:  Das sehe ich nicht so, weil wir im Kommunismus ein gesellschaftliches  Ritual haben, das den Tod in sich abbildet und wiederholt, und das ist  die kommunistische Revolution. Der Kommunismus hat zwei Seiten, die eine  Seite ist die des Todes, und das ist die Revolution. Die Revolution ist  eine gesellschaftliche Selbstaufgabe, der Selbstmord des  gesellschaftlichen Körpers. Die andere Seite des Kommunismus ist die  Verwaltung der Utopie und die Verwaltung des Fortschritts und so weiter.
Hegemann:  In deinem Buch (Das kommunistische Postskriptum)  schreibst du, der Kommunismus sei die Verwaltung der Metanoia.
Groys:  Metanoia gibt es dort, wo ich vor das Paradox gestellt werde,  daß ich gleichzeitig eine neue Gesellschaft aufbauen und alles  revolutionieren will. Der Kommunismus verlangt Leben und Tod  gleichzeitig. Das ist die Paradoxie.
Hegemann: Metanoia  ist möglich, weil der Kommunismus den Tod im Gegensatz zum Kapitalismus  rituell repetiert und gleichzeitig materialistisch am Leben  interessiert ist?
Groys: Der Kapitalismus, das  Business, verlangt von mir nur das Überleben, das ist nur eine halbe  Herausforderung. Ich verstehe das, ich tue das, und ich scheitere.
Hegemann:  Aber dies ist dem Kapitalismus inhärent. Jeder Unternehmer  weiß, daß er scheitert. Im Kapitalismus ist das Scheitern konstitutiv,  und es gibt kaum beliebtere Parolen als solche Schlingensief-Sätze wie  "Scheitern als Chance".
Groys: Scheitern als  Chance bedeutet, daß man Scheitern nicht als Ritual reflektiert, sondern  als Wiedereinschreibung in die Lebenschancen. Das ist das  kapitalistische Schnäppchen. Die Unfähigkeit, das Scheitern als Wert an  sich zu verstehen, nicht als eine Chance des Lebens, ist konstitutiv für  den Kapitalismus, und das bedeutet, daß man sozusagen nur scheitert. 
Im  Kommunismus ist es anders: Die Revolution ist so glorios, daß sie auch  dann gelingt, wenn sie scheitert. Benjamin wie auch Georges Bataille  sagen sogar, daß die eigentlichen Revolutionen immer gescheitert sind,  nämlich die, die sich nicht haben vereinnahmen lassen für den Aufbau der  neuen Gesellschaft.
So haben das offenbar auch Stalin und Mao  gesehen. Auch andere konsequente kommunistische Führer haben ihre  Gesellschaft ständig gegen ihre eigene Herrschaft mobilisiert. Die  chinesische Kulturrevolution hat die Gesellschaft revolutioniert gegen  ihre eigene Struktur und zugleich gegen sich selbst als Verkörperung  dieser Struktur. Das bedeutet, der Kommunismus ist gleichzeitig  Aufforderung zum Leben und zum Tod. Zum gleichen Zeitpunkt und am  gleichen Ort, eine völlig paradoxale Aufforderung, die den Raum zu  reiner Artifizialität öffnet. Diese Aufforderung führt uns aus dem Leben  heraus, denn als Lebendige können wir das Paradox nicht auflösen. Und  sie führt uns in das Reich der Freiheit. Was ist das Freiheitsreich? Es  ist weit weg vom Leben, aber gleichzeitig auch im Leben.
Hegemann:  "Nur schade, daß das Auge modert, das die Herrlichkeit  dieser Freiheit erblicken soll", sagt Kleist.
Groys:  Das ist die Herrlichkeit des Auswegs aus dem Leben. Der  Marxismus führt uns aus dem Leben hinaus, und deshalb führt er uns ins  Reich der Freiheit. Diese Freiheit bedeutet ein Reich des reinen Rituals  und der Wiederholung des Gleichen, der permanenten Revolution.  Revolution ist etwas, was sich, genauso wie Selbstmordattentate,  jederzeit und überall wiederholen läßt. Das hat Che Guevara verstanden.  Er hat gesagt, die Bedingungen seien nicht da für den Aufbau einer  sozialistischen Gesellschaft, aber für die Revolution seien die  Bedingungen immer gegeben. Revolution kann man immer machen ...
Hegemann:  Das klingt nicht mehr sehr marxistisch, aber alles, was du zur  kommunistischen Ideologie gesagt hast, zeigt diese Ideologie in einem  Licht, das auf der Höhe der Zeit zu leuchten scheint. Nach der Wende  sagtest du, daß die Sieger immer die Verhaltensweisen der Besiegten  annehmen, was heißen würde, daß nicht Rußland Amerika kopiert, sondern  umgekehrt Amerika Rußland. Wird die kommunistische Ideologie nun nach  dem Ende der Sowjetunion etwa doch globalisiert?
Groys: Die  Frage nach der Zukunft des Kommunismus stellt sich schlicht und einfach  als die Frage, ob und wie der Kommunismus wiederholt wird. Es ist  sicher, daß Religionen den Kommunismus wiederholen – heute –  als revolutionäre Bewegung; sie wiederholen ihn, indem sie die Aufgabe,  die alltägliche Ordnung, einen Normalfall, zu verwalten, mehr oder  weniger aufgeben und statt dessen den Bereich besetzen, den die  Kommunisten nach Beendigung ihres Projekts unbesetzt gelassen haben,  nämlich die Kollektivierung des Todes. Was uns nach dem Ende des  Kommunismus fehlt, ist der Bezug auf die Kollektivität des Todes, ein  sozialer Rahmen, in dem der Tod gedacht, inszeniert, ritualisiert und in  sozialen Verbindungen vollzogen werden kann. Das machen jetzt die neuen  radikalen religiösen Bewegungen.
Hegemann: Und  das ist die Aufgabe des Kommunismus zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Das  setzt die Aufgabe des Kommunismus fort zum gegenwärtigen Zeitpunkt, weil  Kommunismus mit der Kollektivierung überhaupt zu tun hat. Er ist ein  Kollektivierungsprojekt. Man hat Land kollektiviert, man hat das  Eigentum kollektiviert, und jetzt kollektiviert man den Tod.
Groys:  Die größte Errungenschaft des Kommunismus ist die  Kollektivierung des Todes unter den Bedingungen der Moderne. Die Moderne  hat die Religion abgeschafft und den Tod privatisiert, und die  Kommunisten haben den Tod als Revolution, als Klassenkampf, das heißt  als gesellschaftliche Institution, wieder eingeführt. Das ist der Punkt,  an den alle anderen jetzt anknüpfen. Vielleicht, weil die  Privatisierung des Todes sich für die Menschheit als unerträglich  erwiesen hat. Wir können offenbar nicht in einer Gesellschaft leben, in  der der Tod keine soziale, politische, kollektive -Dimension hat.
Hegemann:  Früher hatten wir die Vermutung, das Ignorieren des  individuellen Todes sei für die Weiterentwicklung der kommunistischen  Idee verheerender als der Niedergang des Ostblocks. Vielleicht war das  falsch. Wenn dieser Lernprozeß durch den Niedergang sichtbar geworden  ist  und sich herausgestellt hat, daß der Tod keine private, isolierte,  verdeckte Angelegenheit sein kann, ist vielleicht die kollektivistische  Idee doch lebendig und der kapitalistischen Privatisierung und  Atomisierung in diesem Punkt überlegen. Die Frage ist, ob diese Einsicht  des Kommunismus (wie sie vielleicht als erster Brecht in der  Sterbelehre seiner Lehrstücke reflektiert hat) sich nicht, wie andere  anitikapitalistische Einsichten, am Ende als markttauglich erweisen  könnte. Können nicht neue Sekten gleichzeitig kapitalistisch und  kollektiv todesbewußt sein?
Groys: Das ist  sicher eine Erfahrungsfrage. Ich glaube aber, das funktioniert so nicht.  In Amerika gibt es apokalyptische Bewegungen. Der „Kampf für  Gerechtigkeit und Demokratie gegen den Terror" ist nichts anderes als  das Sterben nach dem Nullinhalt auf der Nullebene. Diese Formulierung  macht keinen Sinn, weil nach Russell oder dem frühen Wittgenstein gilt:  Sinn macht nur eine Formel, die die Bedingungen anzeigt, unter denen sie  widerlegt oder verifiziert werden kann. Weil wir aber keine Kriterien  haben, die anzeigen, ob wir Freiheit gewonnen haben oder nicht, ist das  Sterben für die Freiheit im Antiterrorkampf ein reines Opfer ohne Sinn.  In diesem Sinne kann man sagen, daß der amerikanische Kampf gegen den  Terror genauso wie  der islamistische Terror beide das Territorium  besetzen, das der Kommunismus freigelassen hat. Nun kommt hinzu: In dem  Moment, wo sich die wirtschaftliche Logik der militärischen unterwirft,  ist der Kapitalismus schon am Ende.
Hegemann: Da  zeichnet sich ein welthistorisch ungeheurer Vorgang ab, denn anders als  beim Ende des Kommunismus steht keine Gesellschaftsordnung bereit, die  an seine Stelle treten könnte. Radwechsel der Geschichte. 
Groys:  Wir stehen am Ende des Kapitalismus. Noch vor zwanzig Jahren  konnte man das nicht vorhersehen. Ein Teil der kapitalistischen  amerikanischen Rechten, die Konservativen, haben dazu aufgerufen, nicht  für Bush zu stimmen. Aus dem Grund, weil bei diesem der Markt dem  strategischen, planenden Denken unterworfen wird. Wir erleben heute eine  historische Situation, wo die wirtschaftliche Logik zunehmend außer  Kraft gesetzt wird und sich der strategischen Logik unterwirft, wobei  die Strategie Pläne verfolgt und eine Zielsetzung hat, die entweder  völlig unrealisierbar sind oder in jeder Hinsicht undefinierbar, nach  Kriterien der Logik und Rationalität nicht auflösbar. Das bedeutet, daß  die militärische Logik ihrerseits dem reinen Ritual unterworfen ist. Das  ist ein Todesdesign, das ist ein Ritual der Meinungslosigkeit  angesichts der letzten Dinge. 
Hegemann: Dann  mündet der Kapitalismus an seinem Ende zwar in die Kollektivierung, aber  nicht in die Kollektivierung des Eigentums, sondern in die  Kollektivierung des
Todes.
 
   
   
   
  