LI 81, Sommer 2008
Unbequem Leben!
Der Siegeszug des Designs oder Die Ausbreitung der Kunst im AlltagElementardaten
Textauszug
(...) Man muß die historische Entwicklung betrachten, um  nachzuvollziehen, wie Design zur Kunst geworden ist. Im Grunde ist die  Kunst ein recht junges Phänomen. Ich würde den Umbruch auf das Ende des  18. Jahrhunderts bis zum frühen Beginn des 19.Jahrhunderts datieren.  Davor hat die Kunst eine gewisse Anzahl von Funktionen gegenüber der  Gesellschaft erfüllt, und es handelte sich deswegen nicht um Kunst im  heutigen Sinne, sondern um Design von geweihten Räumen, wie  beispielsweise den ägyptischen Pyramiden, aber generell um das Design  von Orten der Macht, an denen nicht genau zwischen Bildern, Möbeln und  Kunstgegenständen unterschieden wurde. Nach der Französischen Revolution  veränderten sich die Dinge, als eine Menge Luxusgegenstände der Kirche  und dem Adel enteignet und konfisziert wurden. Diese Luxusgegenstände  fanden sich auf einmal entfunktionalisiert vor, und die Museen füllten  sich mit dem Raub- und Plündergut. Die Kunst, wie wir sie verstehen,  wurde im Grunde durch diesen Raubzug geboren. Im gesamten 19.Jahrhundert  wurden solche imperialistischen Beutezüge durch die verschiedenen  Kolonialreiche fortgesetzt und immer mehr Objekte aus China oder Afrika  ihren Besitzern gestohlen und aus ihren kulturellen Kontexten und  Funktionen herausgerissen. So entstand die moderne, autonome, vom Design  abgetrennte Kunst. Gleichzeitig entstand eine gewisse Nostalgie nach  vergangenen Zeiten, als die Homogenität der ästhetischen Umgebung noch  möglich war und – das ist ein zentraler Punkt – als der Künstler noch  nicht die Stigmata seiner Nutzlosigkeit tragen mußte. Baudelaire  beschrieb, wie der Künstler der Moderne zur Prostitutierten wurde, mit  dem einzigen Ziel und der einzigen Funktion, den Betrachter seiner Werke  zufriedenzustellen – denn von dem Moment an, an dem das Publikum  aufhört, ihn zu lieben, ist er komplett verloren. Der Künstler befindet  sich in einer binären Situation: eins oder null – wird er geliebt, dann  ist für ihn alles gut. Wird er aber nicht oder nicht mehr geliebt,  bedeutet das sein Ende, denn dann hat er seine Funktion in der  Gesellschaft verloren. Das Gewicht seiner Nutzlosigkeit lastet schwer  auf den Schultern des Künstlers, und so versucht er zwei Dinge zu  erreichen: Anstatt nur reines ästhetisches Vergnügen zu bereiten, will  er zum einen erneut das Gefühl des Gebrauchtwerdens erlangen. Und zum  anderen versucht er, ein Schöpfer von nicht nur einzelnen, isolierten  Kunstgegenständen zu werden, sondern von der Totalität sichtbarer  Umwelt, in der alle Menschen leben können und müssen. So entstand die  Idee des Gesamtkunstwerks. Auch das Ziel der russischen Avantgarde und  der Konstruktivisten war die Schöpfung einer totalen und universellen  Kultur der Zukunft, eines neuen Ägypten, wo alles wieder einer einzigen  ästhetischen Idee unterworfen ist.
Heute haben wir eine neue  Homogenität erreicht – allerdings eine Homogenität der Heterogenität,  des indifferenten und arbiträren Pluralismus – und die Menschen glauben  nicht mehr an die Möglichkeit, daß eine neue künstlerische Form  entstehen wird. Vor allem: Sie glauben nicht mehr, daß ein weiterer  Entwicklungsschritt der Kunst, welcher Art er auch sei, die Resultate  dessen, was vorherging, annullieren kann, wie etwa die Impressionisten  die Salonkunst entwerteten. Man befürchtet heute keine Entwertung der  aktuell geltenden ästhetischen Werte mehr; deshalb sind Käufer im Moment  bereit, so hohe Preise für die Gegenwartskunst zu zahlen. Die  Geschichte des künstlerischen Experiments scheint historisch beendet zu  sein.
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Weil die zeitgenössische Kunst ihre  traditionelle Rolle des ästhetischen Experiments verloren hat, sieht  sich der Künstler zur Zeit der Notwendigkeit ausgesetzt, seine Kunst  wieder zu funktionalisieren. Viele Künstler in Deutschland schämen sich  ihres Künstlerberufs. Fragt man sie, ob sie Künstler sind, streiten sie  es ab und sagen, daß sie bloß an verschiedenen Projekten arbeiten. Sie  haben das Bedürfnis, sich wieder nützlich zu fühlen – nützlich für die  Menschen in politischer, humanitärer oder in alltäglicher Hinsicht. Ich  unterrichte an einer Universität für Design und sehe die Projekte meiner  Studenten, die sich zum Beispiel überlegen, wie sie einen schönen Traum  hervorrufen können, indem sie passende Schlafbedingungen gestalten.  Design bekommt somit einen zunehmend utopischen und künstlerischen  Charakter. Es handelt sich nicht mehr nur um die Arbeit am funktionalen  Objekt, sondern um die Gestaltung von Events, um die Herstellung  bestimmter Seelenzustände oder politischer Situationen.
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