LI 78, Herbst 2007
Festhalten an Freud
Eine Heine-Freud-Miniatur zur bleibenden Aktualität des Aufklärers FreundElementardaten
Textauszug
(...) "Festhalten an Freud“ – ein Titel  wie dieser bedarf der Erläuterung, zumal in einem Jubiläumsjahr, in dem  sich viele, kaum daß er hochgerufen ist, an dem verehrten Ahn  festhalten werden. Aber halten sie auch an ihm fest? – Festhalten hat  einen apologetischen Zug, und in der Tat: Hirnforschung, Traumforschung,  Verhaltensforschung scheinen über Freud hinweggegangen, seine  Spekulationen über die Frühzeit des Menschengeschlechts nurmehr ein  Exempel spätaufklärerischer Mythenbildung zu sein, Soziologen  konstatieren das Ende seiner seismischen Wirksamkeit, er wird heute  vorzugsweise aus historischem oder literarischem Interesse gelesen, und  selbst in seiner eigenen Disziplin, der Psychoanalyse, haben die Schulen  ihn und sein therapeutisches Instrumentarium mit Ehrerbietung hinter  sich gelassen. Natürlich bauen sie alle auf ihm auf, und gerade die  Neuerer unter seinen Nachfolgern, Kleinianer, Lacanianer, große  Einzelgänger wie Bion oder Winnicott, haben daraus nie ein Hehl gemacht.  Aber eine um die Anerkennung ihrer therapeutischen Erfolge kämpfende,  die kassenärztliche Zulassung immer wieder neu erstreitende  Berufsorganisation hat die Trieblehre ihres Großvaters längst als  Ballast über Bord geworfen – ein Relikt des vorvergangenen Jahrhunderts,  das in zeitgenössische theoretische Konzepte zu übersetzen müßig  erscheint. Und nicht minder müßig scheint es zu sein, das individuelle  und das kollektive Seelenleben, nun gar die „archaische Erbschaft“  (Freuds Begriff!) und die aktuelle Seelenlandschaft – also die frühe  und die eigene traumatisierte Realität – miteinander in eine reale  Wechselbeziehung setzen zu wollen. Aber genau das, wir erinnern uns, hat  Freud getan.
Als ich 1989 eine Rede Freud zu Ehren hielt, zu  seinem 50. Todestag also, galt sie keinem Toten. Ich konnte sie demgemäß  mit einem offenkundig doppeldeutigen Titel versehen: „Anfangen mit  Freud“. Das war einerseits historiographisch, andererseits  appellativ gemeint. Zu erzählen war die zuerst tröpfelnde, dann  politisch explodierende und bald danach von einer dogmatischen Linken  kassierte Wiederauferstehung Freuds an den Berliner Universitäten nach  der damnatio memoriae des NS. Aufzufordern war zu einem die  neuerliche szientifische und gesellschaftliche Isolierung durchstoßenden  Neuanfang. Das war damals ein Thema für Psychoanalytiker. Heute, so  vermute ich, wende ich mich an Geisteswissenschaftler verschiedener  Disziplinen, Intellektuelle über Fachgrenzen hinweg. Natürlich werde ich  den Abstand zu damals reflektieren müssen – Deutschlands Normalisierung  ist ja durch eine große Verdrängungsleistung erkauft, nennen wir sie in  Kürze: die uns vor der eigenen Geschichte abschottende Historisierung  des NS. Meine apologetische Formulierung will dem Rechnung tragen, aber  sie hat auch dieses Mal Appellcharakter. Festhalten an Freud, das heißt  für mich: festhalten an ihm als einem Bundesgenossen unseres Denkens,  auf den wir heute weniger denn je verzichten können. Ich zum Beispiel  hätte ohne ihn nicht Philosophie und Religionswissenschaft betreiben,  geschweige einer halbtoten, um ihr Überleben kämpfenden Institution wie  der Universität die Treue halten können. Daß dies nicht meine  Privatangelegenheit war, sondern allenfalls die private Formulierung  eines öffentlich verdrängten Interesses, hoffe ich mit meinem Vortrag  zeigen zu können.
Festhalten an Freud, das heißt heute erst  einmal: nicht zurückfallen hinter ihn. Und weil der Blick auf ihn  zugleich auf seinen „Unglaubensgenossen“ Heine fallen  soll – das, wie Sie wissen, der wunderschöne, von Heine selbst geprägte,  dann von Freud auf ihn gemünzte, durchaus identifikatorisch  aufgeladene, weil beider desillusionierendem Wahrheitspathos sich  verdankende Bündnisbegriff –, werde ich mit einer Heine-Freud-Miniatur  beginnen. Sie wird auch meine weitere Annäherung an Freud grundieren.
Der  fünfundsiebzigjährige Freud, von seiner Kieferprothese geplagt,  unfähig, als ein Redner vor ein größeres Publikum zu treten, phantasiert  sich noch einmal in den Hörsaal zurück und setzt die Vorlesungen  zur Einführung in die Psychoanalyse von 1916/17 mit einer Neue(n)  Folge, fertiggestellt 1932, erschienen 1933, fort. Durch  Weiterzählung der Vorlesungsstunden von XXIX bis XXXV sucht er das  Forschungskontinuum der Psychoanalyse trotz Spaltungen und Schulstreit  zu beschwören. Die Neue Folge bietet kritische Revisionen,  ergänzende und weiterführende Gedanken, vor allem aber: Sie ist eine  Bekenntnisschrift. Angesichts konkurrierender „Weltanschauungen“  verwahrt er sich dagegen, daß die Psychoanalyse eine neue, eigene  hervorbringen werde. Ich zitiere: „Sie braucht es nicht, sie ist ein  Stück Wissen-schaft und kann sich der wissenschaftlichen Weltanschauung  anschließen.“ 
Und dann, hellsichtig im Blick auf eine  Zukunft, die mit dem Begriff „Weltanschauung“ Schindluder treiben wird: „Diese“  (die Wissenschaft) „verdient kaum den großtönenden Namen“  (also Weltanschauung), „denn sie schaut nicht alles an, sie ist zu  unvollendet, erhebt keinen Anspruch auf Geschlossenheit und  Systembildung. Das wissenschaftliche Denken ist noch sehr jung unter den  Menschen, hat zuviele der großen Probleme noch nicht bewältigen können.  Eine auf die Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der  Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die  Beschei-dung zur Wahrheit, die Ablehnung der Illusionen.“ Sie  sehen, der Skeptiker Freud hält zwar fest an einem Fortschrittsbegriff –  „noch nicht“ sagt er, so wie der Haeckel der Welträtsel in dem  berühmten Ignoramus-Ignorabimus-Streit des mit dem Erscheinen der Traumdeutung  zu Ende gehenden Jahrhunderts –, aber er hätte mit gleichem Recht dem  Ignorabimus des Du Bois-Reymond zustimmen können und hat es mit vielen  seiner Äußerungen implizit getan: seinem Pochen auf die  Nicht-Abschließbarkeit der Empirie in der Erforschung des Seelenlebens,  die das Kennzeichen psychoanalytischen Denkens bis heute ist, verbunden  mit „Wahrheit“ als einem desillusionierenden Korrektiv des  Fortschrittsglaubens. Und schließlich die entschiedene, bereits eine  zunehmende intellektuelle Isolierung verratende Absage an den  Aktionismus seiner Zeit, auch in der eigenen Disziplin: „Wer von  unseren Mitmenschen mit diesem Zustand der Dinge unzufrieden ist, wer zu  seiner augenblicklichen Beschwichtigung mehr verlangt, der mag es sich  beschaf-fen, wo er es findet. Wir werden es ihm nicht verübeln, können  ihm nicht helfen, aber auch seinetwegen nicht anders denken.“
Ich  habe hier das bekenntnishafte Ende der letzten, der XXXV. Vorlesung  zitiert. Ein, wie ich finde, nicht weniger bemerkenswertes, weil die  alten Antriebe seines Denkens einbeziehendes Bekenntnis verbirgt sich  hinter dem auffälligen, als Vers angeschriebenen Heine-Zitat der XXXIII.  Vorlesung mit der programmatischen Überschrift: „Die Weiblichkeit“. Er  sagt zu dieser Vorlesung zunächst: „Sie bringt nichts als  beobachtete Tatsachen, fast ohne Beisatz von Spekulation, und sie  beschäftigt sich mit einem Thema, das Anspruch auf Ihr Interesse hat wie  kaum ein anderes. Über das Rätsel der Weiblichkeit haben die Menschen  zu allen Zeiten gegrübelt“ – es folgt ein Doppelpunkt und dann, in  die Mitte der Seite gerückt, der unerwartet bunte Vers von vier Zeilen:
   
Häupter  in Hieroglyphenmützen,
Häupter in Turban und schwarzem Barett,
Perückenhäupter  und tausend andre,
Arme, schwitzende Menschenhäupter –
   
und  in Klammern darunter, wie eine Unterschrift plaziert: „(Heine,  Nordsee)“. – Freud fährt fort: „Auch Sie werden sich von diesem  Grübeln nicht ausgeschlossen haben, insofern Sie Männer sind; von den  Frauen unter Ihnen erwartet man es nicht, sie sind selbst dieses  Rätsel.“
Nun bringt Freud in der Regel keine  illustrierenden, sondern beglaubigende Zitate, oft auch solche, die  einen längeren Kontext oder Subtext in verkürzter Form wiederauferstehen  lassen. Sie liefern gleichsam die von der eigenen Deutung ausgelöste,  dem Zitat anheimgestellte freie Assoziation. Unter diesem Gesichtspunkt  hat auch unser Zitat eine erste, offen einsehbare Funktion: Es  beschreibt, unter geradezu religionsfolkloristischen Vorzeichen, eine  grüblerische Ansammlung des Menschengeschlechts – „Männergeschlechts“,  muß man realistisch sagen, denn „Weiblichkeit“ scheint hier in der Tat  nicht aufzutreten, sie ist ja selbst „das Rätsel“. Heine, der Schiller  sehr schätzte, hätte an Freuds Stelle lieber gleich Das  verschleierte Bild von Sais zitiert. Freud, auf den ersten Blick,  greift zu Heine, weil in diesem Vers ein Konzentrat der Menschengattung,  ihrer ungleichzeitigen und ungleichortigen Stationen sichtbar wird: die  Alten Ägypter (Hieroglyphenmützen), die Muslime (der Turban), die  mittelalterlich-katholische Geistlichkeit (das schwarze Barett), die  Vertreter des -Ancien Régime (Perückenhäupter) … und die „tausend  andere(n)“ offenbar nicht nur unter ihrer Grübelei, sondern ebenso  unter der gesellschaftlichen Uniformierung ihrer Kopfbedeckungen  schwitzenden und eben darum „armen“ Menschenhäupter. Immerhin, als  Grübelgesellschaft scheint der männliche Anteil des Menschengeschlechts,  in dieser Frage wenigstens, geeint. 
(...)
 
   
   
   
  