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Cover Lettre International 89, Leiko Ikemura
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LI 89, Sommer 2010

Mein Freund, der Völkermörder

André Kimonyo sitzt in Ruanda wegen Beteiligung am Genozid bis an sein Lebensende hinter Gittern. Doch er behauptet, er sei unschuldig und Opfer einer Intrige. In diesen Wochen beenden die traditionellen Gerichte in Ruanda ihre Arbeit. Hat diese Art der Rechtsprechung tatsächlich für Gerechtigkeit gesorgt?

 

Woran erkennt man einen Mörder? An seinen Händen? Seinen Augen? Am unsteten Blick? Einem verschlagenen Zug um den Mund? Wie weit darf man glauben an jemanden, der verurteilt ist, bis an sein Lebensende im Gefängnis zu sitzen? Wegen Beteiligung am Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter?

 

Staubig ist der Weg, an dem man in Nyanza, der ehemaligen Königsstadt Ruandas, abzweigt.

 

Mais wächst auf den Feldern, und dazwischen spielen Kinder. Am Ende dieser Straße ist Golgatha. Eine lange Mauer, auf deren First Stacheldraht gezogen ist, läuft auf ein eisernes Tor zu. „Gareza Mpanga“, „Gefängnis von Mpanga“, steht darauf. Davor haben ein Dutzend Frauen in der orangen Bekleidung der Verurteilten bescheidene Stände aufgebaut: Mangold, Mais, ein paar Nüsse. Alt sind ihre Gesichter, runzlig und ausgetrocknet. Ich versuche eine mörderische Physiognomie zu bestimmen, um entscheiden zu können, ob jener Mann, wegen dem ich hier bin, nicht doch zu ihnen gehören könnte. In den Blicken, die mich treffen, sehe ich nur Dumpfheit und Gleichmut.

 

Am Tor muß ich meinen Paß abgeben. Eine muzungu, eine Weiße, telefoniert die Wache durch und liest den Brief vor, den ich mitgebracht habe. Darin steht, man solle mir einen Besuch bei dem Gefangenen André Kimonyo ermöglichen. Gezeichnet Martin Ngoga, Generalstaatsanwalt.

 

Einen Vormittag lang hatte ich in Ngogas Büro gesessen und mit seinem Assistenten über das Wann und Wie meines Besuches verhandelt. Hatte die Nachfrage bejaht, ob ich wisse, warum dieser Mann, den ich besuchen wolle, einsitze. Für schuldig befunden, am 11. April 2004 gegen zwölf Uhr mittags ein schwerverletztes dreizehnjähriges Tutsimädchen lebendig begraben zu haben. Ob ich den Täter interviewen wolle. Nein, hatte ich erklärt. Er sei ein Freund. Ein unschuldiger Freund. Letzteres hatte ich mit Trotz vorgebracht. Ich hatte für diese Behauptung keine Beweise. Doch ich wollte den Hahn nicht Verrat krähen hören.

 

Ich kenne ihn kaum. Ich habe vielleicht sieben ganze Tage mit ihm verbracht. Berechtigt mich das, seine von einem Gericht erkannte Schuld zu ignorieren? Stelle ich persönliche Sympathien über meine Urteilskraft?

 

Ich kenne ihn. Vor drei Jahren brauchte ich auf einer Ruandareise einen Fahrer. Ich wollte nach Nyamata und Ntarama, zwei Orten, an denen der Schrecken des Genozids bewahrt wird. In den Gottesmauern der Kirchen hatten Tausende von Tutsi Schutz gesucht, an beiden Orten vom Bürgermeister und von den Pastoren dazu überredet und dann den Hutumördern preisgegeben. Zehntausend Tutsi wurden in der Kirche von Nyamata, 4.000 in der von Ntarama ermordet, und die heutige ruandische Regierung, die bei der Zurschaustellung des Genozids und seiner Folgen nicht auf zurückhaltende Didaktik setzt, hat die Gebeine ausgestellt und die blutbefleckte Kleidung, hat den Geruch von Verwesung nicht fortgejagt. Niemand betet heute mehr in diesen Kirchen, höchstens aus Entsetzen über das, was man dort sieht. Aus Scham über die Grausamkeit der eigenen Spezies.

 

André arbeitete damals für eine deutsche Investmentgesellschaft, die ihn mir „borgte“. Für seine Firma war er Fahrer, Buchhalter, Dolmetscher, Vermittler, Mädchen für alles. Für einen, der von den Hügeln komme wie er, sagte er, in einem ärmlichen Dorf aufwuchs und der erste, der einzige seiner Familie war, der die Schule beendete, habe er es weit gebracht.

 

Er hatte große, offene Augen, eine bescheidene Art und eine natürliche Freundlichkeit. Schnell waren wir vertraut, auf jene Art, die entsteht, wenn man das Gefühl hat, sich schon lange zu kennen. Wir sprachen über meine drei Töchter und seine zwei Söhne, Erziehung und Werte, darüber, wie die Kinder zu schnell groß werden, die Jahre verfliegen. Ob er oft in sein Heimatdorf zurückkehre, wollte ich von ihm wissen, und er antwortete mir: Selten. Man neide ihm sein Leben dort. Die anderen im Dorf seien ohne Perspektiven.

 

Damals, auf jener Reise, lernte ich viel über gacaca, jene traditionelle Rechtsprechung, die Ruanda wiedereingeführt hatte, um die Scharen von Völkermördern anklagen zu können. 180 Jahre hätte es gedauert, wären all diese Fälle vor den zivilen Gerichten verhandelt worden. Denn auch Ruandas Richter waren dezimiert, ermordet oder auf der Flucht, das ganze Instrumentarium einer zivilen Gesellschaft existierte nicht mehr. Die Dorfgerichte, deren Name jener einer Grasart ist und die auf eben diesem Gras tagen, schienen die einzige Lösung. André und ich besuchten eine Verhandlung, er dolmetschte, erklärte. Es gehe nicht nur um angemessene Strafe, sondern auch darum, wie die Menschen wieder gemeinsam leben könnten. Deshalb erhielten geständige Täter, die zu den Leichen führten, zur Aufklärung beitrügen, Strafmilderung.

 

Ich kenne ihn kaum. Ich bin nie in seinem Haus gewesen, ich habe nie an seinem Tisch gegessen.

 

Ich kenne ihn. Man kennt einen Menschen, wenn man gemeinsam an einem Sarg steht, darin liegt eine Frau, der Sarg steht in einem Glaskasten, als läge dort Schneewittchen. So war es in der Gruft der Kirche von Nyamata. All die anderen Toten nur noch Gebeine, aufgereiht in Regalen, nur noch Gebeine, begraben unter einer großen weißen Marmorplatte. Warum diese eine hier in dem Sarg? André ging damals und fragte jemanden, der zuständig war, kam zurück: „Sie starb, weil man ihr einen Stock durch die Vagina, durch den Körper bis in den Kopf rammte; sie liegt hier stellvertretend für alle, deren Leiden maßlos war.“

 

Man kennt einen Menschen, wenn man sekundenlang schwankt mit einem Kopf, in dem sich alles dreht, und eine Hand hält einen fest, führt einen hinaus. Draußen sehen wir uns an. Das Entsetzen in meinen Augen spiegelt sich in seinen. Später schreiben wir in das Gästebuch. „Möge Gott verzeihen“, schreibt André. „Wem soll er das verzeihen?“ „Uns.“ „Euch Hutu?“ „Nein, uns Menschen, die wir zu so etwas fähig sind.“

 

(...)

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