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Kunst Tobia Rehberger
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Inhaltsverzeichnis

LI 147, Winter 2024

Menschenrechtsextremismus

Der Prozeß Deutschland–Italien vor dem Internationalen Gerichtshof

(…)

Dieser Prozeß ist nicht der spektakulärste, aber gewiß der absurdeste, der je vor dem Internationalen Gerichtshof verhandelt wurde. Deutschland klagt Italien vor dem Weltgericht an, um den Opfern der in Deutschlands Namen begangenen Morde und Verbrechen keinen Cent Entschädigung zahlen zu müssen. Es ist gleichsam der auf den Kopf gestellte Nürnberger Prozeß, weil hier die Rechtsnachfolger der Mörder die Familien der Opfer vor den Kadi schleiften. Und Deutschland hat gute Chancen, diesen Prozeß zu gewinnen, denn er gleicht aufs Haar jenem ersten, vier Jahre dauernden Prozeß, den Deutschland im Jahre 2012 mit Pauken und Trompeten gewann und in dem die Richter dem deutschen Staat eine Art universellen Freibrief für vergangene und künftige Verbrechen ausstellten, der überdies alle noch ausstehenden Forderungen Polens, Serbiens, Griechenlands und anderer kriegsgeschädigten Staaten ungültig machte. Dieser Freibrief trägt den Namen „Staatenimmunität“. Der Internationale Gerichtshof entschied im Februar 2012, im Einklang mit der deutschen Seite, daß Deutschland über „Staatenimmunität“ verfüge. Individuen können keine Staaten anklagen, was immer diese ihnen angetan haben. Nur Staaten können Staaten anklagen, Privatpersonen nicht. „Staatenimmunität“ impliziert insofern das Recht eines Staates, Menschen eines fremden Landes zu töten, ohne von ihnen zur Verantwortung gezogen werden zu können. So das Urteil des Internationalen Gerichtshofs. Ein gigantischer Persilschein, nicht ausgestellt von der willfährigen deutschen Nachkriegsjustiz, sondern von 15 Richtern aller Hautfarben und Religionen.
     Das Urteil „Staatenimmunität“ setzte alle bis dahin ergangenen Urteile italienischer Gerichte, in denen deutsche Kriegsverbrecher zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden oder in denen man den Opfern von Massakern oder Zwangsarbeit das Recht auf Entschädigung zugesprochen hatte, außer Kraft. Wie erklärt sich also, daß der IGH zehn Jahre nach diesem Urteil einen zweiten Prozeß akzeptiert, der, um mehrere Rechtshändel erweitert, exakt dieselben Schadenersatzprozesse zum Gegenstand hat wie der erste? Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs dulden doch keine Revision und sind unanfechtbar. Deutschland und Italien hatten seine Autorität ohne Einschränkung anerkannt und in Gesetzestexten ihrer Parlamente bestätigt. Er ist, gleich der Stimme Gottes, die höchste aller Instanzen. Es gibt keinen Einspruch.
     Etwas Unerwartetes war geschehen, ein Paukenschlag aus heiterem Himmel. Das Verfassungsgericht in Rom erklärte am 22. Oktober 2014 das Urteil des Internationalen Gerichtshofs für fehlerhaft und ungültig, da die „Staatenimmunität“ zwar ein übergeordnetes Recht sei, aber keine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschließen dürfe. 
     Dieser Vorgang war unerhört. Es war nicht nur ein juristischer Skandal, da das italienische Verfassungsgericht nicht befugt ist, eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zu kritisieren. Diese eklatante Bevorzugung des Menschenrechts vor dem Staatsrecht hatte weitreichende politische Implikationen, da es die Opferfamilien vor dem Vergessen rettete und wieder ins Spiel brachte – genau das, was Deutschland hatte verhindern wollen, im Namen des „europäischen Rechtsfriedens“, wie ein deutscher Anwalt scheinheilig sagte.
     Erst einmal geschah jahrelang nichts. Neue Anklagen und Gerichtsentscheide fügten sich den alten zu, und immer neue Schadenersatzforderungen wurden an Deutschland gestellt, das, nach alter Manier, nicht antwortete. Da entschied ein römischer Richter, vier edle deutsche Besitztümer der italienischen Hauptstadt zu konfiszieren und, für den Fall, daß Deutschland seine Kriegsschulden nicht bezahle, am 25. Mai 2022 zwangszuversteigern. Deutschland rief am 29. April 2022 den Internationalen Gerichtshof an, um diese Entscheidung mit Hilfe einer einstweiligen Verfügung zu verhindern und grundsätzlich abzuschmettern.

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„Befehlsnotstand“

Deutschland hat nicht nur seine finanziellen Kriegsschulden nicht bezahlt. Die erste dieser Schulden ist eine Schuld. Sie lastet auf den Schultern der Justiz. Deutschland hat seine Mörder und Verbrecher nicht zur Verantwortung gezogen. Die sogenannte Nachkriegsjustiz war ein Apparat zur gezielten Nichtbestrafung der Mörder und Massakrierer. Zu Kriegsende liefen 600 000 Soldaten der Waffen-SS, im Tribunal von Nürnberg 1946 zur „verbrecherischen Organisation“ erklärt, frei und sorglos auf Deutschlands Straßen herum. Die meisten Verfahren gegen namentlich bekannte Kriegsverbrecher wurden wegen Mangels an Beweisen gar nicht erst begonnen, da es bei Massenmorden naturgemäß keine Zeugen gibt. Auch reichte die bloße Beteiligung an einem Massaker für eine Anklage nicht aus. Anders als bei einem Banküberfall, wo es genügt, Schmiere gestanden zu haben, um hinter Gitter zu kommen, mußte einer, der am Massaker partizipierte, nachweislich und zweifelsfrei höchstpersönlich gemordet haben. Das Maschinengewehr nachzuladen war straffrei. Kurz, die deutsche Justiz ließ die deutschen Mörder laufen. Um freigesprochen zu werden, war es ausreichend, gehorcht zu haben, und die deutschen Soldaten waren gehorsam bis zum Exzeß. In den Nachkriegsprozessen reichte der Gehorsam als Entschuldigung für alle Schandtaten aus. Einer hat gemordet, gefoltert, vergewaltigt, aber er hat gehorcht? Freispruch. Denn gehorchen muß der Soldat. Die deutschen Richter haben sogar ein absurdes Argument erfunden, das Hunderten von Angeklagten Freisprüche einbrachte: den „Befehlsnotstand“. Die Theorie des Befehlsnotstandes war, daß ein Soldat, der dem Befehl, einen Gefangenen zu töten, nicht gehorchte, selbst getötet wurde. Die Verteidiger im Frankfurter Auschwitzprozeß waren unfähig, auch nur ein einziges Beispiel für ihre Theorie zu liefern. Ich glaube nicht, wie viele Juden, die ich in meiner Kindheit kannte, daß die Deutschen ein gottverfluchtes Volk sind, denn ich glaube weder an Gott noch an Flüche. Aber es wäre genauso unpräzise zu sagen, jedes andere Volk hätte einen Völkermord dieser Art und dieses Ausmaßes begehen können. Weshalb? In anderen Völkern galt Gehorsam nicht als Tugend, in Deutschland schon.
     Woran das liegt? Daran, daß die Deutschen, anders als die Franzosen, seit Jahrhunderten vor ihren Landesherren gebuckelt haben. Sie haben nie eine Revolution zustande gebracht, nie die Freuden des Ungehorsams, des freien Willens, des Rechts auf Widerstand kennengelernt. Fast unbekannt ist, daß trotz der offiziellen Kollaboration mit den Deutschen die Einwohner Frankreichs ungeachtet der Androhung schwerster Strafen 75 Prozent der französischen Juden in Klöstern, auf Bauernhöfen, in Privatwohnungen, Scheunen und Mansarden versteckten und sich von den antisemitischen Gesetzen Vichys nicht abschrecken ließen. Sie gehorchten ihrem Staat nicht, weil er Unrecht tat. Das Recht auf Widerstand ist in der Geschichte des französischen Volkes verankert wie der blinde Gehorsam in der Geschichte des deutschen. Und so lese ich auch die Urteile der deutschen Nachkriegsgerichte bis hin zu jenem infamen Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Falle Distomo 2006 als eine triste Ode auf den grenzenlosen Gehorsam des deutschen Volkes. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.