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Cover Lettre International 137
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Inhaltsverzeichnis

LI 137, Sommer 2022

In Putins Hirn

Über eine tödliche Bedrohung der gesamten europäischen Zivilisation

(…)

Seit Jahren beobachten Analytiker, wie nahe Putin einer in Rußland sehr aktuellen Ideologie steht, die auf einer philosophischen Strömung namens Noomachie („Krieg der Kulturen“) und auf der bereits erwähnten politischen Doktrin des Russkij Mir („Russisches Universum“) beruht. Dieser letztere Terminus soll die Utopie eines idealen Staates definieren, der alle Gebiete vereint, in denen ethnische Russen leben oder gelebt haben. Wozu auch die Länder gehören, in denen sie in der Antike gelebt hatten, zur Zeit der mythischen „slawischen Urkultur“. Hier hat die Obsession der Russen von der Halbinsel Krim ihren Ursprung. Gemäß dem Konzept des Russkij Mir werden sich die „slawischen Stammlande“ – so die Prophezeiung des mythischen Einsiedlermönches Philotheus oder Filofej von Pskow (um 1523) – früher oder später auf das mächtige „Dritte Rom“, sprich Moskau, konzentrieren.
     Um die Teile dieses idealen Rußlands zusammenzufügen, muß ein Übermensch, ein moderner Messias, geboren werden. Eine geheime Vorschrift gebietet ihm, bevor er ans Werk geht, das schicksalhafte Datum abzuwarten: den Moment, in dem eine große Pest endet, der Schwarze Tod, der die Völker niedermäht wie angekündigt in der Apokalypse.
     Jetzt ist die Ernte reif.
     Als „Einsammler aller russischen Länder“ wird der mythische Führer bezeichnet, der sich dem widmet, was in seinem Milieu als „der Plan“ bekannt ist. Auf einer Pressekonferenz mit Olaf Scholz am 15. Februar 2022 prophezeite Putin den Journalisten boshaft-enigmatisch: „Alles wird nach dem Plan verlaufen.“ Auf die Frage nach dem Inhalt des Plans verweigerte er die Antwort, betonte aber: „Wir kennen den Plan.“ In seiner späteren Ansprache an die russische Nation bekräftigte er: „Wir gehen nach dem Plan vor.“
     Wie wir heute sehen können, sah der Plan offenbar die Bombardierung von Zivilisten vor, er sah Brände, Witwen, Waisen, getötete Kinder vor, er sah abgerissene Arme und Beine frisch eingezogener junger russischer Soldaten vor. Das Atomkraftwerk Saporischschja sollte sich in eine Zeitbombe verwandeln, der Atommüll von Tschernobyl durch Raketenbeschuß in eine bedrohliche Gefahr verwandelt und die Bewohner Europas zu Geiseln russischer Erpressung gemacht werden.
     Das Schlimmste daran ist jedoch, daß es sich um einen Plan handelt, also um einen Entwurf, der im voraus erstellt worden ist, unabhängig von irgendwelchen Verhandlungen, Zugeständnissen oder Verlockungen. Es ist der Plan des Großen Führers, den seine Diener nicht diskutieren können. Es hat also keinen Sinn, so die bittere Schlußfolgerung, noch zu hoffen, daß die Verhandlungen funktionieren werden.

(…)

Wer Lust hat, die jüngsten russischen Dokumente mit Blick auf den speziellen pseudohistorischen Hintergrund Putins und seines Zirkels zu interpretieren – und besonders die Rede des Präsidenten vom 21. Februar, am Vorabend des Krieges, über das Thema „Was die Ukraine in Wirklichkeit ist“ (worin er behauptet, die Ukraine sei nichts anderes als ein Splitter, der sich von Großrußland abgelöst habe) –, wird sich nun denken können, worüber Putin mit dem armen Macron am langen Kreml-Tisch sprach, während der quälenden „sechsstündigen Geschichtskonferenz“, wie Emmanuel Macron dieses Gespräch genannt hat.
     Belehrungen dieser Art haben wir schon früher erlebt. Ein herausragendes Beispiel ist der Artikel am 11. Oktober 2021 in der Zeitung Kommersant, verfaßt vom ehemaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew. Jawohl, genau von ihm, der im Westen als irgendwie liberal-progressiv gilt. Aber Medwedew ist nicht progressiv. In puncto verrückter und inhumaner Ideen ist er identisch mit seinem Nachfolger, Vorgänger und Präsidenten. Lesen wir, nur um die Stimmung zu genießen, den ersten Absatz dieses Artikels, der sofort und ohne den Grund zu erklären mit der Ukraine beginnt.
     „Die Ukraine ist auf der Suche nach einer eigenen Identität, nach einem besonderen Entwicklungsweg. Die Ukraine ist dabei, sich eine eigene Geschichte zu erfinden, obwohl doch die Große Geschichte uns klar und deutlich lehrt, daß es Jahrhunderte dauert, bis man das Recht auf Anderssein erwirbt. Bis dahin muß klargestellt werden, daß jemand, der in der Ukraine regiert, keine nationale Identität hat. Was für unglückliche Menschen! Wer sind sie? Wo suchen sie nach ihren Wurzeln? Auf welche nationale Geschichte können sie sich berufen? Welcher Ethnie gehören sie an?“
     Es ist unnötig, Medwedews „Manifest“ bis zum Ende zu lesen: Schon nach den ersten Zeilen erkennt man, worauf der Ex-Präsident hinauswill. Der Anfang gibt zu verstehen, daß wir es mit jener wahren historischen Tiefe zu tun haben, die der Ukraine seiner Meinung nach fehlt. Medwedew hingegen fehlt sie mitnichten. Er läßt uns an bestimmte Ideen und Reden von Joseph Goebbels denken. Eloquent spricht er über Präsident Selenskyi, seine jüdische Familie, seine „Ethnie“ und seine „Wurzellosigkeit“.
     Falls sich noch irgendwer in der westlichen Welt Illusionen über diesen „Putin-Zwilling“
Medwedew macht, der den Thron des derzeitigen Präsidenten vier Jahre lang, von 2008 bis 2012, mit einem von beiden erfundenen Trick warmgehalten hatte, um die verfassungsgemäße Begrenzung der Mandatsdauer zu umgehen – und sie dann ganz abzuschaffen (aber nur für Putin), der muß nun umdenken.
     Abgesehen von dem enormen Gebräu aus historisch-mythologischem Unsinn und auch von den rassistischen Unterstellungen auf tiefster Stufe (um dann in den Krieg zu ziehen, in dem er Selenskyj als „Nazi“ und die Ukrainer als „Nazisten“ bezeichnet) – wer weiß, was der Große Führer seinem Gegenüber Macron in jenen sechs Stunden am langen Tisch sonst noch alles aufgetischt hat 

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In Putins Rußland, aber auch im Rußland vor Putin, wurde die Geschichte schon immer gerne „umgeschrieben“. Orwell hat über diese Methode berichtet: Täglich informiert sich ein Medienvertreter über neue ideologische Tendenzen im Umgang mit der alten Geschichte, und wo es ihm nötig erscheint, schreibt er diese dann um und paßt sie an.
     Die Neigung, ständig mit der Geschichte zu schummeln, führte zu einer permanenten Inkohärenz in den Richtlinien und Hinweisen der sowjetischen KP. Das berichten viele gut informierte ehemalige Kommunisten in ihren Memoiren, zum Beispiel der einstige sowjetische Botschafter in Griechenland, Aleksandr Barmin, der 1937 in den Westen floh, oder die einstige Anführerin der KPD Ruth Fischer, aber auch vom Kommunismus enttäuschte Schriftsteller wie Arthur Koestler und Victor Serge. Viele fragten sich, warum die kommunistische Ideologie so oft so scharfe Wendungen durchgemacht hatte, und kamen zum Schluß, daß man die nächste Wendung nie vorhersehen konnte. Die nächste Rekonstruktion der fernen Vergangenheit 

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Wir wissen heute, wie weit die Community der „Gebildeten“ in Rußland fähig ist, die Enzyklopädie „auf ihre Art“ umzuschreiben (wie Eco es ihr erlaubt, aber nur ironisch).
     Offenbar sind diese Personen tatsächlich in die Fußstapfen der Protagonisten des Foucaultschen Pendels getreten, und so entstand ihr Großer Plan ohne jede Ironie 
     Dieser Große Plan ist es, der seit Beginn des Krieges in der Ukraine verfolgt wird. (…) Der erste Schritt dieses Großen Plans, den wir überschreiben könnten mit: „Ur-Großrußland zurückerobern, der Noomachie zum Sieg verhelfen, Russkij Mir aufbauen“, war die Eroberung eines Teils von Georgien im Jahr 2008. Der nächste war die Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014, begleitet von der Annexion der Separatistenregionen Donezk und Luhansk mit einem zermürbenden Krieg, der bis heute andauert.

(…)

Nach Putins philosophisch-psychologischer Theorie ist die Ukraine nichts anderes als ein „wandernder“ Teil von Rußland, ein Territorium ohne eigene kulturelle Identität, das sich die bösen westlichen Mächte unter den Nagel gerissen und erfolgreich „verwestlicht“ haben, um es für ihre Zwecke zu nutzen. Dies ist es, was Putin und Lawrow mit ihren schizophrenen Erklärungen meinen, wenn sie sagen: „Wir haben die Ukraine nicht angegriffen“ und: „Wir sind nur gekommen, um sie zu befreien.“
     Wenn Putin und Lawrow das wirklich glauben, müssen wir einsehen, daß wir allein mit Vernunft zu keiner Einigung kommen werden.
     Oh je, kann man da nur sagen. Was ist von Verhandlungen zu erwarten, bei denen die eine Seite versucht, sich einer praxisorientierten Sprache zu bedienen, nach den Kategorien der Logik und des gesunden Menschenverstandes, und die andere Seite in kosmischem Rußlandkult und Panslawismus schwelgt und auf ideologische „Befreiung“ von ansteckender „Verwestlichung“ zielt?
     Journalisten, die gewohnt sind, in TV-Talkshows aufzutreten, schlagen vor, sich „mit guten Absichten an den Verhandlungstisch zu setzen“ und dabei vielleicht auch einige Ambitionen des Großen Wladimir zu befriedigen, um die Lage zu beruhigen. Als wären die Ambitionen des russischen Führers definier- und nachvollziehbar und hätten Grenzen!
     Welche Grenzen? An der Spitze des Landes, das sein Nachbarland überfallen hat und daher mittlerweile als Kriegsverbrecher angeklagt wird, steht heute einer, der glaubt, Rußland habe „niemals Kriege begonnen“, sondern sie immer nur „zurückschlagen und ruhmreich bekämpfen“ müssen. Hat das jemals gestimmt? Ja, manchmal mag es so gewesen sein, aber nur in den Napoleonischen Kriegen und im Krieg gegen Hitler. In vielen anderen Fällen hat dieses Land jedoch seiner imperialen Libido gefrönt, indem es Kriege anzettelte, die keine zuvor definierten Ziele hatten. Es hat erst damit aufgehört, als es für sich selbst, für das Russische Reich, für das Reich, das den Konflikt begonnen hatte, ein katastrophales Ende mit schwerwiegenden inneren Folgen kommen sah.
     Im 19. Jahrhundert befand sich das Russische Reich in großen Schwierigkeiten wegen des sogenannten Russischen Krieges, auch „Krimkrieg“ genannt, den die Russen mit einem Angriff auf Moldawien begonnen hatten, das von einer Koalition aus Britischem, Französischem und Osmanischem Reich sowie dem Königreich Sardinien verteidigt wurde. Zar Nikolaus I., den Putin paradoxerweise mehrfach als seinen idealen Vorgänger bezeichnet hat, verlor den Krieg (1856), starb vor Kummer, und sein Reich wurde grundlegend reformiert.
     Zwanzig Jahre später geriet das Russische Reich in eine schwere Krise durch den leidvollen Krieg gegen das Osmanische Reich (1877). Weitere dreißig Jahre später bedeckte das Russische Reich sich erneut mit Schande wegen des Russisch-Japanischen Krieges (1904–1905), den es mit der Annexion der Mandschurei begonnen hatte, bei der seine Soldaten als einheimische Bauern verkleidet waren, was uns an die Annexion der Krim 2014 durch die sogenannten „kleinen grünen Männchen“ erinnert.
     Geschwächt trat das Russische Reich dann in den Ersten Weltkrieg ein, ohne noch einmal an Kraft zu gewinnen, um schließlich 1917 den Gnadenstoß von den Bolschewiken zu erhalten und den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit riesigen Gebietsverlusten zu unterzeichnen.
     Zu schweigen von Afghanistan (1979), das die Ursache und der Anfang vom Ende der gesamten mammuthaft riesigen Sowjetunion war.

(…)

Einen Krieg zu verlieren – oder genauer: das Ausbleiben eines weltweit anerkannten Erfolges – war für die Herrscher in Rußland immer ein Vorbote nahenden Endes. Daher ist es schwierig für Putin, sich mit mediokren Ergebnissen zufriedenzugeben. Wird er noch etwas anderes brauchen?
     Die gefährlichste Falle steckt für ihn nicht in der Rationalität der Geschichte, sondern in dem irrationalen Wahn, von dem er und seine Mitstreiter sich ihre Sicht der Welt haben prägen lassen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.