LI 80, Frühjahr 2008
Sartre in Stammheim
Der Philosoph beim Staatsfeind Nummer eins - Ein Besuch und seine FolgenElementardaten
Textauszug
Eine denkwürdige Aufnahme. Zu sehen sind drei Insassen eines Pkws: Auf  dem Beifahrersitz mit Jean-Paul Sartre der berühmteste Philosoph seiner  Zeit; auf dem Rücksitz dahinter ein Rechtsanwalt, der RAF-Verteidiger  Klaus Croissant, über dessen Kanzlei behauptet wurde, sie sei die größte  Personalrekrutierungsstelle gewesen, über die die terroristische Gruppe  jemals verfügt habe; und am Steuer mit Hans-Joachim Klein ein damals  völlig unbekannter junger Mann, dessen Bild ein Jahr später um die Welt  ging, als er an der Seite des international gesuchten Terroristen Carlos  am blutigen Überfall auf das OPEC-Treffen in Wien beteiligt war. Von  der Kamera nicht eingefangen wurde jene Person, die für das  Zustandekommen dieses denkwürdigen Trios vielleicht unverzichtbar  gewesen ist: Daniel Cohn-Bendit, Ikone des Pariser Mai und heute  Europa-Abgeordneter der Grünen in Straßburg. Die Aufnahme ist  vor 34 Jahren in Stuttgart gemacht worden, am 4. Dezember 1974.
Nichts  hat, so ließ sich kurz darauf feststellen, Sartres Ruf in Deutschland  so sehr beschädigt wie seine Bereitschaft, Andreas Baader, dem führenden  Mann der RAF, einen Besuch in Stuttgart-Stammheim abzustatten. Sartres  als Solidaritätsakt geplanter Schritt wurde zum öffentlichen Fiasko,  aber auch zu einer persönlichen Blamage. Daß er damit weder den im  Hungerstreik befindlichen RAF-Gefangenen noch sich selbst einen Gefallen  getan hatte, verriet sich bereits auf der anschließenden  Pressekonferenz in einem Stuttgarter Hotel. Als Sartre seine Eindrücke  von „Baaders Zelle“ beschreiben wollte, stellte sich heraus,  daß er diese gar nicht gesehen haben konnte, sondern lediglich den  Besucherraum. Seine Beurteilung der Haftbedingungen erwies sich als  völlig wertlos. Das war keineswegs alles. Heute ist es möglich, die  Geschichte dieses spektakulären Besuches genauer nachzuzeichnen und neu  zu bewerten. Inzwischen liegen Quellen vor, die einen Blick hinter die  Gardinen erlauben.
Wie hatte es die RAF überhaupt fertiggebracht,  einen der bedeutendsten Philosophen des 20.?Jahrhunderts zu ihrem  verlängerten Arm zu machen? War es von Sartres Seite aus schlichtweg  Naivität? Oder war für ihn die RAF eine Projektionsfläche, weil er in  Baader, Meinhof, Ensslin und den anderen eine Art Widerstandsgruppe zu  erkennen glaubte? Oder hatte er nicht selbst – man denke an sein Vorwort  zu Fanons Die Verdammten dieser Erde? – eine Einstellung, die  ihn für die von der RAF propagierte Gewaltrhetorik besonders empfänglich  machte? Wer hatte ihn überhaupt für diesen öffentlichkeitswirksamen Akt  gewonnen?
Die Geschichte der RAF ist durch kaum etwas so geprägt  worden wie durch ihre Hungerstreiks.
Nachdem die Gründer der RAF  im Juni 1972 verhaftet worden waren, setzten sie den Hungerstreik als  Mittel zur Fortsetzung ihres aussichtslos gewordenen politischen Kampfes  ein. Es waren insgesamt zehn; der erste fand 1973 statt, der letzte im  Frühjahr 1989. Die RAF-Gefangenen forderten neben einer Verbesserung  ihrer Haftbedingungen ihre Zusammenlegung und beanspruchten eine  Anerkennung als Kriegsgefangene. Der längste und härteste Hungerstreik  war der dritte. Er begann am 13. September 1974 und dauerte 145 Tage. Im  Kontext dieses Konfliktes stand Sartres Besuch in Stammheim.
Trotz  künstlicher Ernährung starb nach 58 Tagen einer der Gefangenen. Es war  der 9. November 1974. Der Tote hieß Holger Meins. Er war 33 Jahre alt  geworden. Am Ende wog er bei einer Größe von 1,86 Meter nicht mehr als  39 Kilogramm. Ein Photo seines ausgemergelten Leichnams wurde  anschließend auf Demonstrationen wie eine Monstranz umhergetragen, um  die als unmenschlich angesehene Praxis von Staat und Justiz  anzuprangern. Am 18. November 1974 wurde Meins in Hamburg zu Grabe  getragen. An der Beerdigung nahm auch der damalige RAF-Anwalt und  spätere Bundesinnenminister Otto Schily teil. Er sprach von einer „Hinrichtung  auf Raten“. In mehreren Städten kam es zu Demonstrationen  mit Tausenden von Teilnehmern. Sie warfen den Justizbehörden eine  Mitschuld am Tod des Hungerstreikenden vor. Wie aufgewühlt und auch  rachedurstig die Atmosphäre damals war, läßt sich daran erkennen, daß  Hans-Joachim Klein – wie er in einem Dokumentarfilm einräumte –  entschlossen war, in Reaktion auf den Tod des Hungerstreikenden zwei  Polizisten zu erschießen. Es sei lediglich dem mäßigenden Einfluß seines  Freundes und späteren Kabarettisten Matthias Beltz zuzuschreiben  gewesen, daß er sich auf einer anschließenden Demonstration von einer  solchen Mordtat habe abhalten lassen.
Doch was in Frankfurt in  letzter Minute verhindert werden konnte, wurde zur selben Zeit in  West-Berlin gespenstische Wirklichkeit. Unbekannte Mitglieder der Bewegung  2. Juni erschossen dort den Kammergerichtspräsidenten Günter von  Drenkmann, einen als liberal geltenden Juristen, der nicht einmal etwas  mit RAF-Verfahren zu tun hatte. Die Attentäter, die den Richter  ursprünglich hatten entführen wollen, waren auf besonders infame Weise  vorgegangen. Sie klingelten am Abend mit einem Fleurop-Blumenstrauß und  baten um Einlaß. Als der Vierundsechzigjährige erkannte, was die  Eindringlinge im Schilde führten, und sich zu wehren begann, zogen sie  ihre Waffen und streckten ihn im Beisein seiner Ehefrau nieder.
Die  RAF ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wie sie zu der Mordtat stand.  Unter dem Titel Solidarität und Lernprozeß verfaßte ihre in  Stammheim inhaftierte Führungscrew eine im Brustton der Überzeugung  gehaltene Rechtfertigungsschrift. Die „Hinrichtung des Richters“,  hieß es im Untertitel, sei „ein Teil der Solidarität mit dem  Hungerstreik der RAF“. Unerbittlich hieß es weiter: „Wir weinen  dem toten Drenkmann keine Träne nach. Wir freuen uns über eine solche  Hinrichtung. Diese Aktion war notwendig, weil sie jedem Justiz- und  Bullenschwein klargemacht hat, daß auch er – und zwar heute schon – zur  Verantwortung gezogen werden kann. Sie war nützlich, weil der Tod von  Holger MEINS nicht nur bejammert worden ist … Sie war beispielhaft, weil  sie dem dauernden Gerede über die Übermacht des Staatsapparates, das  nur Resignation auslösen kann, ein Ende bereitet hat …“? Notwendig,  nützlich, beispielhaft – die Diktion erinnerte an Ulrike Meinhofs  bizarre Rechtfertigungsschrift für den Überfall auf die israelische  Olympiamannschaft, in der sie die Geiselnahme durch die Gruppe Schwarzer  September als eine modellhafte antiimperialistische Aktion  gefeiert hatte.
Man braucht nicht viel Phantasie, um zu  begreifen, warum Sartre für einen Akt der Solidarität gegenüber der RAF  disponiert gewesen sein dürfte. Grundlegend waren seine Affinität zu  einer revolutionär verstandenen Praxis der Gewalt und zu Gruppen der  radikalen, nichtkommunistischen Linken. Nach den Geschehnissen des Mai  1968 hatte er sich demonstrativ auf die Seite der Gauche  prolétarienne gestellt, eine militant maoistische Organisation, zu  der Alain Geismar, André Glucksmann, Serge July und Benny Lévy gehörten.  Ihr bundesdeutsches Pendant war die Frankfurter Betriebsgruppe Revolutionärer  Kampf (RK), zu der neben Cohn-Bendit und Joschka Fischer  zeitweilig auch Hans-Joachim Klein gehörte. Die aus der antiautoritären  Fraktion des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS)  entstandene Organisation lehnte die terroristische Praxis ab, vertrat  jedoch die Überzeugung, daß die RAF als ein Teil der Linken verstanden  werden müsse und deshalb eine solidarische Kritik verdiene. Diese etwa  von Cohn-Bendit öffentlich vertretene Haltung beschreibt auch ziemlich  genau Sartres Einstellung gegenüber der Gruppe um Baader und Meinhof.
Bei  dem nicht nur von RAF-Verteidigern lautstark erhobenen Vorwurf der  „Isolationsfolter“ dürfte es in Sartres Ohren geklingelt haben. Sollte  im Nachfolgestaat Nazi-Deutschlands erneut gefoltert werden? Und  handelte es sich bei der Gruppe um Baader und Meinhof nicht um eine Art  nachholender Résistance? Waren sie nicht – wie von vielen linken  Intellektuellen behauptet – angetreten, einen „neuen Faschismus“ zu  bekämpfen?
Spätestens im Februar 1973 war durch ein Interview  bekannt geworden, daß Sartre die sich im Nachbarland um die RAF  abspielenden Geschehnisse aufmerksam verfolgte. Er hatte erklärt: „Eine  starke revolutionäre Strömung ist offenbar in Westdeutschland nicht  vorhanden. Aber es gibt Kräfte, die mir interessant erscheinen,  beispielsweise die Baader-Meinhof-Gruppe. … Sie trat wahrscheinlich  verfrüht auf … Aber es scheint mir, daß die Energie, der Geist der  Initiative und der Sinn für die Revolution bei ihr reell waren.“?  Damit hatte er sich weiter hervorgewagt, als es irgendein  bundesdeutscher Linksintellektueller hätte tun können, ohne dafür  öffentlich in der Luft zerrissen zu werden. Was er an der RAF allein zu  kritisieren schien, war das, was der SED-Kritiker und einstige  Starintellektuelle der DDR, Wolfgang Harich, zuvor als „revolutionäre  Ungeduld“ bezeichnet hatte. Die RAF, meinte Sartre, sei einfach zu  früh losgeprescht. Es kann nicht überraschen, daß ein RAF-Anwalt wie  Klaus Croissant, der ständig auf der Suche nach Unterstützern und  Bündnispartnern für seine Mandanten war, bei der Lektüre neugierig  wurde.
Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich  Böll hatte bei den Bestrebungen, sich öffentlich für eine Verbesserung  der Haftbedingungen einzusetzen, die bis dahin vielleicht wichtigste  Funktion eingenommen. Doch Böll, der einst sogar „freies Geleit für  Ulrike Meinhof“ gefordert hatte, war mit seinen  Vermittlungsversuchen immer mehr unter Beschuß geraten. Und der  Aufmerksamkeitswert würde bei dem Mann, der im Unterschied zum  bedeutendsten deutschen Nachkriegsautor 1964 die Entgegennahme des  Nobelpreises für Literatur abgelehnt hatte, zweifelsohne noch höher  ausfallen.
Am „Staatsfeind Nummer eins“, wie  Andreas Baader in der Hochzeit der RAF genannt wurde, schieden sich  frühzeitig die Geister. Den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, bei  dem er im Mai 1970 vergeblich Unterschlupf suchte, erinnerte er an  einen „Zuhälter“, Lorenz Jäger, einen Feuilleton-Redakteur der  FAZ, der ihn als Gymnasiast erlebt hatte, beeindruckte er mit seiner „Raubkatzeneleganz“.  Für die einen war er ein „Kleinkrimineller“, in  Anspielung auf seine Vernarrtheit in Sportwagen gar ein „Großhubraumfetischist  mit übersteigertem Selbstdarstellungs- und Imponiergehabe“ (Günter  Wallraff), für die anderen war er ein „Revolutionär“ und „die  absolute Nummer eins“ innerhalb der RAF. Horst Herold, der damalige  Chef des Bundeskriminalamtes, der ihn von Heerscharen an Polizisten  jagen und hinter Schloß und Riegel bringen ließ, hatte Respekt vor ihm  und nannte ihn „einen Vulkan“. Er attestierte ihm eine  „enorme kriminelle Kraftanstrengung“, mit der er nach  innen seine Zellengenossen ideologisch zusammengehalten und nach außen  die weiter im Untergrund operierenden RAF-Mitglieder dirigiert habe.  Innerhalb der RAF war Baader die unbestrittene Führungsfigur, ein Mann,  der von seinen Mitgefangenen ironisch wie respektvoll als „Generaldirektor“  bezeichnet wurde.
Warum es unbedingt Baader sein mußte, der  Sartre empfangen sollte, scheint intern keinen Moment lang offen gewesen  zu sein. Sartre gab später auf die Frage, warum er Baader und nicht  Meinhof einen Besuch abgestattet habe, die Antwort, es heiße ja „Baader-Meinhof-  und nicht Meinhof-Baader-Gruppe“. Das klang eher nach  Verlegenheit. In dieser Hinsicht dürfte der prominente Autor ohnehin  keine Wahl gehabt haben. Im Vorfeld war in den „info“-Zirkularen der RAF  zweierlei verbreitet worden: Das Bundeskriminalamt beabsichtige, die  Umstände des Hungerstreiks zu nutzen, um Baader zu ermorden, und nur  durch den Besuch eines so prominenten Mannes wie Sartre könne dieser  Mordversuch vielleicht noch verhindert werden. Sartre als indirekter  Retter Baaders – so lautete die phantastisch anmutende Zuspitzung  innerhalb der Gruppe. Im Auftrag der RAF-Spitze sollte Croissant an  Sartre herantreten und ihn auffordern, Baader und keinem anderen einen  Besuch abzustatten.
(...)