LI 70, Herbst 2005
Schiffsverschrotter
Die Abwracker von Alang und die Anarchie der MeereElementardaten
Genre: Literarische Reportage / New Journalism
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Textauszug
Kapitän Vivek A. Pandey fand, er hätte Kampfpilot werden können. Da sein  Vater vor der indischen Unabhängigkeit für die Briten geflogen war,  sagte sich Pandey, ihm liege das Fliegen im Blut. Als junger Mann hatte  er den indischen Tauglichkeitstest für Piloten absolviert und die Prüfer  mit seinem räumlichen Orientierungsvermögen, seiner instinktiven  Beherrschung der Fluginstrumente und seinen zuverlässigen Reaktionen  beeindruckt. Sie sahen, was er bereits wußte – daß er mit starken Nerven  geboren war. Als er zur See ging, lief er daher vor nichts davon,  sondern traf eine Wahl. Er erklärte es mir mit einem Spruch: „Von  der Luftfahrt zur Seefahrt“ – als gäbe es da keinen großen  Unterschied. 17 Jahre lang durchpflügte Pandey auf Frachtschiffen und  Tankern unter vielen Flaggen den Ozean. Er wurde Kapitän und lebte an  Bord in Kajüten, von denen ihm manche luxuriös wie Hotelsuiten schienen.  Er fuhr Norfolk, Savannah und Long Beach sowie sämtliche großen Häfen  Europas an. Ihm behagten die Sauberkeit auf dem Schiff und die  Befehlsgewalt eines Kapitäns, doch irgendwann heiratete er und spürte  die Verlockungen der Häuslichkeit. Vor 13 Jahren, nach der Geburt einer  Tochter, ließ er sich im Staat Gujarat nieder, an der westlichen Küste  Indiens.
Ich traf ihn dort in den dunklen Stunden vor Einsetzen  der Winterdämmerung an einem Strand namens Alang – ein mit  Industrieschrott übersäter Küstenstreifen am öligen Golf von Cambay,  einem Teil des Arabischen Meeres. Man hatte mich gewarnt und mir gesagt,  daß Pandey etwas gegen mich haben, daß er mich für einen aufdringlichen  Westler halten würde, doch habe ich nichts davon bemerkt. Er war ein  kräftiger Handelskapitän mittleren Alters in sauberen Khakihosen und  Tennisschuhen, eine Baseballmütze auf dem Kopf, und er kehrte den  ruhigen, geschäftsmäßigen Seemann heraus, der einen Job zu erledigen  hat. Inmitten einer Gruppe zurückhaltender, etwas rauhbeinig aussehender  Männer, manche mit Turbanen und in traditionelle Lungis gekleidet, nahm  er das Angebot an, mit ihnen Kokosnußstücke und Tee zu teilen. Er sah  auf die Uhr. Er blickte hinaus auf die dunkle See.
Die Flut hat  das Meer um gut zehn Meter ansteigen lassen, weshalb das Wasser fast  einen halben Kilometer tiefer landeinwärts reichte und hoch hinauf an  den Rand des Strandes schwappte. Zwei Schiffe lagen an der dunklen Küste  vor Anker, waren aber nur an ihren Mastlichtern zu erkennen. Das erste  war ein 170 Meter langer Frachter namens „Pioneer 1“ mit Heimathafen St.  Vincent in der Karibik. Pandey hob ein Funkgerät an die Lippen, nannte  sich „Alang Control“ und sagte: „Okay, ‘Pioneer One’, holt  Anker ein, Anker einholen!“
Der Kapitän der „Pioneer“  bestätigte mit schwerem Akzent: „Roger. Anker einholen.“
An  mich gewandt meinte Pandey: „Los geht’s.“ Über Funk wies er  das Schiff an, sich von der Küste abzuwenden und Fahrt aufzunehmen. „Kurs  eins-sechs-null, volle Kraft voraus. Wie groß ist die Entfernung zum  Schiff hinter Ihnen?“
„Sechs Kabellängen.“
„Okay, also,  Kurs eins-sechs-null und volle Kraft.“
Die Mastlichter  krochen durch die Nacht. Als der Kapitän meldete, das Schiff sei auf  auslaufendem Kurs, befahl Pandey, das Ruder hart steuerbord  einzuschlagen. Er sagte: „Melden Sie mir Ihren Kurs alle zehn Grad.“
Gleich  darauf kam die Antwort: „Eins-sieben-null, ‘Pioneer One’.“ Die  Wende war eingeleitet.
„Eins-acht-null, ‘Pioneer One’.“  Da ich die riesige Stahlmasse nicht sehen konnte, mußte ich sie mir  vorstellen, wie sie unter Volldampf bebend von der Mannschaft zur Küste  gedreht wurde. Der Kapitän meldete die Kursänderungen mit angespannter  Stimme. Ich hatte den Eindruck, daß er nie zuvor etwas Ähnliches getan  hatte. Doch Pandey gab sich gelassen. Er starrte zu den Silhouetten  einiger Schuppen oben am Strand hinüber und nippte an seinem Tee. Aus  dem Funksprechgerät drang: „Eins-neun-null … Zwei-null-null …  Zwei-eins-null.“
Pandey begann von dem Tauglichkeitstest für  Piloten zu erzählen, an dem er vor Jahren teilgenommen hatte. Er sagte:  „Diesen Test kann man nur einmal im Leben machen. Entweder man  eignet sich als Pilot, oder man eignet sich nicht dazu, und deshalb  nimmt man an diesem Test nur einmal im Leben teil. Sehr interessant …“
„Zwei-zwei-null.“
Bei  diesem Test hatte Pandey mit mechanischen Steuergriffen einen Punkt in  den Grenzen eines sich bewegenden, vier Quadratzentimeter großen  Rechtecks gehalten. Mit einem Funkgerät würde er jetzt die „Pioneer“,  ein 25 Meter breites Schiff, auf ein knapp 32 Meter breites Strandstück  aufsetzen lassen. Es war vermessen, und das wußte er. Ich bewunderte  seine Gelassenheit.
Die Schiffslichter kamen näher. Aus dem  Funkgerät klang es: „Zwei-drei-null.“
Pandey sagte: „Okay,  Kapitän. Sie lassen Ballast ab?“
„Ja, Sir, machen wir. Ballast wird  abgelassen.“
„Sehr schön, bitte weiter so.“ 
Die Zahlen  stiegen an. Bei „Drei-eins-null“, die „Pioneer“ schon kurz vor  dem Ufer, zeigte Pandey eine erste Regung. Mit lauterer Stimme befahl  er: „Okay, halten Sie Drei-zwei-null. Und jetzt, Kapitän! Volle  Maschinenkraft!“
Ich trat an den Rand des Wassers. Die  „Pioneer“ schälte sich aus der Dunkelheit, ihre Schraube wühlte den  Ozean auf, und während sie auf den Strand zuraste, schob sie eine große  weiße Bugwelle vor sich her. Ich konnte die Gestalten einiger Männer  entdecken, die von Brücke und Bug nach vorn stierten. Dann ertrank der  Lärm der Motoren im wasserfallartigen Rauschen der Bugwelle. Ganz in der  Nähe stob eine Gruppe Arbeiter auseinander und brachte sich in  Sicherheit. 
Pandey trat zu mir an den Rand des Wassers. Die  „Pioneer“ kam stetig näher. Sie wurde von einer Küstenströmung erfaßt  und kurz seitwärts abgetrieben. Dann traf der Kiel auf Grund, und das  Schiff prallte hart auf den überfluteten Strand, wurde vom eigenen  Gewicht und der vollen Antriebskraft langsam weiter geschoben, bis das  Ruder nicht mehr funktionierte, das Heck außer Kontrolle schlingerte und  das Schiff keine hundert Schritt von dort, wo wir standen, zum Liegen  kam. Anker groß wie ein Auto ratterten herab und platschten ins flache  Wasser.
 
Der Motor erstarb, der Reihe nach wurden die Lichter von  vorn nach achtern ausgeschaltet, und schließlich lag die „Pioneer“  reglos in der Dunkelheit.
Wenn, wie behauptet wird, ein Schiff  lebendig sein kann, dann war dies der Augenblick, an dem die „Pioneer“  starb. 1971 war sie in Japan gebaut worden und hatte unter diversen  Besitzern und wechselnden Namen – „Cosmos Altair“, „Zephyrus“, „Bangkok  Navee“ und „Normar Pioneer“ – die Welt umrundet, doch während ich vom  Strand aus zusah, wurde sie zum eisernen Leichnam – nach indischem  Gesetz und in der Praxis kein Schiff mehr, nur noch eine importierte  Stahlmasse. Die Matrosen an Bord ließen den Strahl ihrer Taschenlampe  durch die toten Gangways streichen und warteten auf die Ebbe, damit sie  eine Strickleiter herablassen und sich trockenen Fußes davonmachen  konnten. Die Arbeiter des neuen Besitzers würden am Morgen damit  beginnen, den Leichnam zu zerteilen.
(...)
 
   
   
   
  