LI 147, Winter 2024
Die große Verstörung
Europa und die Migration – Zu Geschichte, Moral, Politik und Recht
Elementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Textauszug: 10.242 von 141.405 Zeichen
Textauszug
(…)
Asyl: Die Migrationsbewegungen sind auch das Ergebnis einer Finanzglobalisierung, welche die Kluft zwischen den Wohlhabenden und denen, die auf der Strecke geblieben sind, vertieft. In diesem Sinne dringen die Migrationsbewegungen bis ins Herz der sozialen Frage. Soll man aber allen Personen, die Opfer der gängigen Ungleichheiten der modernen Welt sind, Asyl gewähren? Das ist eine der Fragen, an die man nicht allein mit dem Kompaß von Mitleid und Leid herangehen kann, ohne Gefahr zu laufen, das Spezifische an diesem Recht, dem Asylrecht, zum Verschwinden zu bringen.
(…)
Grenzen: Der Begriff „Grenze“ steckt einen Rechtsstaat und ein Rechtssubjekt ab. Ist es legitim, den Zugang zu ihm zu beschränken? Kann es eine restriktive Politik in Sachen Immigration geben, oder muß man davon ausgehen, daß es eine Pflicht zur unbegrenzten Gastfreundschaft geben sollte, sobald es sich um die Ankunft eines Fremden oder Ausländers handelt? Gäbe es ein höheres Menschenrecht, das es jedem Mann und jeder Frau erlauben würde, sich niederzulassen, wo und wann immer er oder sie es möchte? Kein Rechtstext bestätigt das, und die alten Griechen dachten ein solches Recht nicht ohne überaus kodifizierte Grenzen auf beiden Seiten. Unbegrenzte Gastfreundschaft ist etwas Unmögliches, das Gefahr läuft, den Gast [hôte] in einen hostis, einen Feind zu verwandeln. Vermutlich genau deshalb gibt es nur wenige, die der zwangsweisen Rückführung von Personen, die kein Bleiberecht in Frankreich besitzen, prinzipiell feindselig gegenüberstehen. Wenn man aber diejenigen aufnimmt, die als Flüchtlinge unseres Schutzes bedürfen, und Hunderttausende Visa ausstellt – der Beweis dafür, daß unser Land weit davon entfernt ist, abgeschlossen zu sein –, wie soll man dann mit dem Problem umgehen, mit dem uns jene konfrontieren, die sich weigern, das Land von sich aus zu verlassen, wenn nicht dadurch, daß man Zwang auf sie ausübt? Ist das schlechte Gewissen angesichts der Gewaltanwendung nicht eine Form der Kompensation für das unglückselige Scheitern der Emanzipationsbewegungen der „Dritten Welt“? Eine Art Gastfreundschaft, die sich für ebenso postkolonial wie grenzenlos hält?
(…)
Volk: Haben wir das Recht zu denken, daß das, was eine Vielzahl unserer Zeitgenossen beunruhigt, auch auf feststellbare Effekte einer Rückwendung auf die Herkunftsgemeinschaften zurückzuführen ist, die an der Verfassung eines Volkes rüttelt, das durch ein und dasselbe politische Projekt miteinander verbunden ist?
Während man in der Linken lange der Ansicht war, daß die Immigration zur Internationalisierung des Klassenkampfes beitrage, wird die entpolitisierte Bewertung der Multitudes als Motiv für die Großherzigkeit zahlreicher Aktivisten, sich des Leids anzunehmen, keinerlei Internationalismus hervorbringen. Das Wort „Migrant“ – das man nun dem „immigrierten Arbeiter“ vorzieht – ist der sprachliche Träger dieser vollzogenen Entpolitisierung und hat teil am Gefühl der Niederlage in jenen Vorstädten, die man früher rot nannte, weil es dort ein „wir“, eine gemeinsame Hoffnung gab. [September 2023]
(…)
Im 19. sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Europa eine Region, aus der man emigrierte. Amerika, Ozeanien und selbst Afrika und Asien tragen Spuren dieses Erbes. Seit mehreren Jahrzehnten ist es umgekehrt. Europa ist zu einer Region geworden, in die man immigriert, zu einer Zuflucht, neidisch beäugt von den zahlreichen Verlierern jener Ungleichgewichte, die durch die Globalisierung und die Rückeroberung des ehemals sowjetischen Raums – und auf spezifische Art auch Chinas – durch den Wirtschaftsliberalismus entstanden sind. Europa wird auch als Ort des Asyls für die Opfer aktueller militärischer Konflikte erlebt. Aber nicht nur. Nach Europa kommen auch die Opfer der inneren sozialen Kämpfe, die in zahlreichen Ländern toben. Innerhalb von zehn Jahren haben 9 Millionen Personen um den Schutz der Europäischen Union nachgesucht. Eine Zahl, die seit dem Zweiten Weltkrieg ohne Beispiel ist. Syrer, Afghanen, Türken, aber auch Venezolaner, Menschen aus Ost- wie aus Westafrika oder vom indischen Subkontinent, diejenigen, die Europa als möglichen Ort des Asyls betrachten, kommen von allen Kontinenten. Viele fallen nicht unter das Asylrecht im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention.
Der größte Zustrom nach Europa beruht jedoch auf Immigranten, die ein Aufenthaltsrecht besitzen, Arbeitsmigranten, Immigranten im Zuge der Familienzusammenführung oder Studierende. Im Jahre 2023 haben so 3,7 Millionen nichteuropäische Immigranten in einem der Länder der Europäischen Union einen Aufenthaltstitel erhalten, ein Anstieg von 129 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Auch das eine Zahl, die ohne Beispiel ist, seit sie erhoben wird.
Viele Europäer machen in ihrem Alltagsleben die Erfahrung, daß in ihrer Umgebung die Vielfalt der Menschen zunimmt, daß es auf dem Gebiet von Kultur und Religion zu Veränderungen kommt, die auf neu angekommenen Migrantengruppen beruhen. Selbst in Ländern, die vor einigen Jahrzehnten noch abgeschlossen waren, in den Ländern Osteuropas, wo hineinzukommen noch schwieriger war als herauszukommen. Oder in Ländern, die einst als Gegenden bekannt waren, aus denen man emigrierte, wie die im Süden unseres Kontinents. In Romanen und Filmen vernehmen wir ein Echo der Italiener, die nach New York, Buenos Aires, ins Ruhrgebiet oder auch nach Paris aufbrachen. Das gilt auch für viele Spanier und Portugiesen zur Zeit der „Dreißig Glorreichen Jahre“ des wirtschaftlichen Aufschwungs im Nachkriegseuropa.
Diese langfristigen Migrationsströme erklären, warum heute 13 Prozent der europäischen Bevölkerung einen Migrationshintergrund besitzen, da sie im Ausland, außerhalb jenes Landes geboren sind, in denen ihr aktueller Wohnsitz liegt. Im Vergleich ist diese Rate genauso hoch wie in den Vereinigten Staaten, wo die Immigranten 15 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, viel mehr als in Lateinamerika oder gar in Asien, wo die Rate bei knapp drei Prozent liegt. Diese Zahlen bestätigen, daß wir uns gegenüber anderen keineswegs abschließen.
Diese Entwicklungen werfen jedoch Fragen auf, rufen gar Befürchtungen hervor, soziale Ängste, Befürchtungen hinsichtlich unserer Integrationskapazitäten, unserer Fähigkeit, gemeinsam eine Gesellschaft zu bilden. Und zwar selbst in Ländern, die der Aufnahme von Fremden lange günstig oder sogar überaus freundlich gegenüberstanden, sei es aus wirtschaftlichen Gründen oder aufgrund der Achtung vor den humanistischen Werten, die ein philosophisches Erbe sind, das wir sowohl schätzen als auch verteidigen.
Die hier vorgelegte „große Verstörung“ versucht, auf bedächtige Weise darzulegen, warum gerade überall in Europa verstärkt der Wunsch aufkommt, die Ankunft neuer Immigranten zu regulieren. Und inwiefern dieser Wunsch als Motiv diente, um im Frühjahr 2024 den neuen Flucht- und Migrationspakt anzunehmen, und inwiefern er den Hintergrund des mittlerweile plakativ bekundeten Willens Ursula von der Leyens bildet, die Direktive der „Rückkehr“ weiterzuentwickeln, um die Zahl der freiwilligen Ausreisen oder zwangsweisen Rückführungen jener Immigranten zu erhöhen, denen die Europäische Union kein Aufenthaltsrecht gewähren möchte.
Jene, die politisch Verantwortung tragen, wissen genau, daß das Spektakel mit Immigranten, die nicht gerufen wurden und die Grenzen bisweilen unter Lebensgefahr überqueren, die Idee der Souveränität sowohl Europas als auch der es bildenden Staaten konterkariert. Es ist unerläßlich, zu verstehen, in welchem Maße all dies auf den öffentlichen wie privaten Debatten lastet, vor allem in jenen Ländern, die auf besondere Weise verkörpern, was Europa ist, in jenen Demokratien, die auf einem Sozialstaat aufbauen. Ebenso unerläßlich ist es, daß diejenigen, die politisch Verantwortung tragen, sich der Ängste der Schwächsten unserer Mitbürger annehmen, die befürchten, daß der Sozialstaat, der für sie unersetzbar ist, nicht mehr in der Lage sein könnte, sich angemessen um sie zu kümmern. Denn die irreguläre Immigration „verstört“ die Schwächsten unserer Mitbürger, indem sie ihre Angst verstärkt, daß Prekarität, sowohl in sozialer Hinsicht als auch bezüglich der Einkommen, zum Schicksal aller Benachteiligten wird.
Die vorliegende „große Verstörung“ versucht des weiteren, die neuen Schwierigkeiten darzulegen, die sich in bezug auf die Integration der neu Ankommenden in unsere Gesellschaften ergeben. Die Befürchtung, daß sich in bestimmten Städten oder Vierteln aufgrund religiöser Glaubensweisen Intoleranz entwickelt. Oder daß im öffentlichen Raum wie in den Familien die fundamentale Errungenschaft der Gleichheit von Mann und Frau verlorengeht. Oder daß jenes Recht in Frage gestellt wird, seine Sexualität nach eigenem Gutdünken zu leben, oder das Recht, an das zu glauben, woran man glauben möchte – solange man den Nachbarn nicht hindert, so zu sein, wie er sein möchte. Und die noch viel tiefer reichende Befürchtung, daß bestimmte Diskurse und Bekundungen an dem rütteln, was den Kern des demokratischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg bildete, nämlich der entschlossene und unerbittliche Kampf gegen den Antisemitismus in all seinen Formen, während wir gleichzeitig wissen, daß wir kollektiv für die Auswirkungen verantwortlich sind, welche die Vernichtung der europäischen Juden, die wir nicht zu schützen wußten, auf den Gang der Welt hatte. Nun ist leider nicht zu bezweifeln, daß ein Teil derer, denen wir Gastfreundschaft gewährten, unsere demokratischen Errungenschaften aushöhlen – wie eine wurmstichige Frucht – und lieber die Büchse der Pandora öffnen, der das Schlimmste entsteigt.
Der französische Philosoph Edgar Quinet brachte im 19. Jahrhundert Befürchtungen zum Ausdruck, die uns dabei helfen können, bestimmte heutige Reaktionen zu verstehen: „Das wahre Exil besteht nicht darin, aus dem eigenen Land herausgerissen zu werden, sondern in ihm zu leben, aber dort nicht mehr zu finden, wofür man es liebte.“ Haben manche unserer Mitbürger das Recht, so zu denken? Ebendies ist eine der Fragen, die durch diese „große Verstörung“ aufgeworfen werden. Die Debatten sind um so komplexer, als ein Teil der öffentlichen Meinung von moralischen Empfindungen und einem berechtigten Schuldgefühl angesichts vergangener Taten durchdrungen ist.
(…)