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Cover Lettre International 136
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Inhaltsverzeichnis

LI 136, Frühjahr 2022

Griechen im Bürgerkrieg

Die Hintergründe der letzten großen bewaffneten Erhebung in Europa / Einführung von Ulf-Dieter Klemm

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DAS NÖRDLICHE BOLLWERK
Durch den Bürgerkrieg wurde eine neue geopolitische Grenze aufgezeigt oder eher konstruiert: The Northern Tier – hier wiedergegeben als „das Nördliche Bollwerk“. Es war der Bereich, der von der Adria ausgehend den Balkan durchschnitt, das Schwarze Meer, das Bergmassiv des Kaukasus, das Kaspische Meer, und bis nach Zentralasien reichte. Er umfaßte die nördlichen Land- und Seegrenzen dreier Staaten – Griechenlands, der Türkei und des Iran –mit der Sowjetunion oder anderen kommunistischen Staaten. Diese Zone, die nach Norden die Gegend mit dem größten Teil der damals bekannten Energiequellen – Mesopotamien, Persischer Golf – abschirmte, einschließlich der Seewege zwischen Westen und Osten, vom östlichen Mittelmeer bis zum Indischen Ozean, gewann strategische Bedeutung für die Herausbildung des internationalen Nachkriegsszenarios. Eben diese Region wurde von einem Wechsel heißer und kalter lokaler Kriege sowie gewaltsamer politischer Umstürze in den drei Staaten Iran (1953, 1978), Türkei (1960, 1971, 1980) und Griechenland (1947 bis 1949, 1967) bestimmt. Griechenlands Bedeutung in den unmittelbaren Jahren nach dem Krieg gewinnt Dimensionen, die jenseits der Lösung eines internen Problems wie des Bürgerkriegs liegen oder eines regionalen offenen Problems vom Ende des Zweiten Weltkriegs. Denn Griechenland wird im Verbund mit der Türkei und Iran als sichere Grenze angesehen und als Linie, um die sowjetische Expansion einzudämmen. Unterschiedliche Anlässe aus jeweils einem dieser Länder wurden durch die Rhetorik des Kalten Krieges zusammengeführt und formten Vorstellung und Praxis der Amerikaner in bezug auf die Welt. Diese Vorstellung und die daran anschließende Praxis werden sich auf die Ereignisse übertragen und als Szenarien auf der internationalen Bühne Gestalt annehmen.


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FAULER APFEL GRIECHENLAND
Im Sommer 1947 wurden die kommunistischen Minister aus den Regierungen in Frankreich und Italien entlassen; im Herbst desselben Jahres wurde die Gründung der Kominform beschlossen und eine Welle von Streiks losgetreten, welche die Polarisierung nach Westeuropa trug; im Februar 1948 fand der kommunistische Putsch in der Tschechoslowakei statt, einem Land mit demokratischen Traditionen, wo die politische Elite Widerstand gegen die Deutschen geleistet hatte; von Juni 1948 bis Mai 1949 gab es die Luftbrücke von Berlin wegen der Blockade der Stadt durch die Sowjets, eine Maßnahme, die auf die Entscheidung der westlichen Alliierten folgte, einen separaten deutschen Staat zu schaffen. Der Nachkriegskonsens über die Zusammensetzung der europäischen Regierungen begann aufzubrechen, nachdem die Amerikaner bereits im März 1947 erklärt hatten, daß sie die Verantwortung für die Verteidigung Griechenlands und der Türkei übernehmen würden. Die Krise in Europa folgte zeitlich also auf die Krise am Nördlichen Bollwerk.
     In diesem Szenario steigender Spannung wurde Griechenland die Rolle des „faulen Apfels“ zugewiesen. Gemäß Dean Acheson, dem US-Außenminister: „Der sowjetische Druck auf die Meerengen, den Iran und Nordgriechenland hat den Balkan zu einem Punkt gebracht, daß eine sowjetische Invasion sehr wahrscheinlich ist. In diesem Fall könnten die Sowjets drei Kontinente infiltrieren. Wie die Äpfel, die durch einen faulen Apfel im Korb verdorben werden können, so kann auch die Krankheit von Griechenland aus weitergegeben werden und den Iran und den gesamten Orient infizieren. Sie wird die Fäulnis durch Kleinasien und Ägypten an Afrika weitergeben, und durch Italien und Frankreich, die durch ihre eigenen starken kommunistischen Parteien bedroht sind, wird die Krankheit an Westeuropa weitergegeben.“
     Nachdem Acheson die verschiedenen Ursachen der Krise zu einer Theorie des umfassenden Gegensatzes zwischen zwei unterschiedlichen Ideologien und Lebensstilen zusammengeführt hatte, betonte er den destabilisierenden Faktor der Minderheiten am Nördlichen Bollwerk, nämlich der Slawomazedonier in Griechenland, der Lasen, Kurden, Armenier und Aseris im Kaukasus – seltsamerweise schloß er in diese Aufzählung auch die Griechen in Istanbul ein. Ferner erwähnte er, daß sich in Nordgriechenland ein kommunistischer Staat abspalten könne, und verglich dies mit dem autonomen Aserbaidschan in Nordiran.
     Diese Entwicklungen schufen ein Szenario, das die Umwandlung eines internen Konflikts in einen internationalen begünstigte, was mit der Schaffung der NATO im April 1949 besiegelt wurde. In der Rede des Präsidenten, mit der die Truman-Doktrin (1947) verkündet wurde, war die Verteidigung Griechenlands gleichbedeutend mit der Verteidigung der freien Welt gegen den Totalitarismus. Die freie Welt, die zuerst gegen den Nationalsozialismus gekämpft hatte, würde sich nunmehr kraftvoll dem Kommunismus entgegenstemmen. Eine Überlassung Griechenlands an die Sowjets würde die Aufgabe Europas bedeuten.


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BLUTIGES FAZIT
Insgesamt kostete der Bürgerkrieg auf beiden Seiten etwa 68 000 Menschenleben, 43 000 auf seiten der Nationalen Armee und 25 000 bei der Demokratischen Armee, sowie eine unbestimmte Anzahl von zivilen Opfern. Unter dem Gesichtspunkt der militärischen Verluste war es der blutigste Krieg der griechischen Geschichte. Etwa 3 500 politische Gefangene wurden hingerichtet, und circa 50 000 bis 80 000 wurden für einige Jahre oder Jahrzehnte inhaftiert oder verbannt. Im April 1963 verzeichneten britische Zeitungen einen Vorfall zwischen einer Engländerin mit griechischem Familiennamen und der deutschstämmigen griechischen Königin vor einem Luxushotel in London. Betty Bartlett-Ambatielos protestierte gegen die andauernde Haft ihres Ehemannes in Griechenland. Antonis Ambatielos war ein Gewerkschaftsführer der Seeleute, der sich mit seinen Kollegen im Krieg dafür eingesetzt hatte, die überseeischen Kommunikations- und Versorgungsrouten der Alliierten offenzuhalten. Er wurde in Griechenland eingesperrt nicht wegen begangener Verbrechen – er selbst hatte am Bürgerkrieg nicht teilgenommen –, sondern wegen seiner politischen Orientierung. Das Problem der politischen Gefangenen des Bürgerkriegs beschäftigte die internationale Öffentlichkeit noch jahrelang.

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024