LI 150, Herbst 2025
Brutalität der Plattform
Die gewalttätige Wende bei Medien und Technologie im World Wide WebElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Petra Ilyes
Textauszug: 3.449 von 32.092 Zeichen
Textauszug
In der Vor-Dotcom-Zeit lag die Macht des Internets noch innerhalb von oder zwischen Netzwerken von Gemeinschaften. Websites waren Geschäfte oder Plätze, keine eingebauten Vermittler. In den späten 1990er Jahren bedeutete der Begriff „E-Commerce“ bereits, daß ich deinen Handel ermöglichen und nicht nur meinen Kram online verkaufen konnte. Nach dem Post-Dotcom-Crash verlagerte sich der Schwerpunkt von Zugang und Beteiligung hin zu Einnahmen.1 Ein Jahrzehnt später sind die protokollogischen Kämpfe verloren. Die Plattform hat sich das Internet einverleibt und in einen Metamarkt verwandelt, der darauf abzielt, die zentralisierten Ströme von Angebot und Nachfrage zu optimieren. In dieser Ära nach 2008 veränderte sich das Konzept der Plattform dahingehend, daß es nun einen Dienst der Enteignung bedeutet, der für die Nutzung durch „andere“ bestimmt ist.
(…)
Plattformen sind das Unsichtbare und verhalten sich wie unbeteiligte Zuschauer, die so tun, als seien sie nie für etwas verantwortlich.3 Die Intention der Plattformen ist, daß Nutzer sie gar nicht erst bemerken und ihr Design dank der unauffälligen und reibungslosen Funktionalität nicht mehr wahrnehmen. Ihre Nicht-Sichtbarkeit erschwert es, sie als distinkte Objekte zu erkennen.
(…)
Autonomie und kritisches Denken sind auf dem Rückzug und haben ihre Anziehungskraft und Ausstrahlung verloren. Laut Mbembe wollen die Menschen nicht mehr selbst denken und urteilen, vielmehr delegieren sie dies an die Sphäre der Maschinen, während „Identität das neue Opium der Massen geworden ist“. Technische Geräte haben die Position früherer Autoritäten übernommen und ein gespaltenes Selbst geschaffen, das nicht mehr auf der Suche nach Einheit und Synthese ist. Aufgrund ihrer Plastizität haben „die digitalen Technologien notwendigerweise die Fähigkeit zu träumen demokratisiert“. Die multiplen Identitäten, um die es hier geht, versuchen nicht mehr, die physische und die digitale Person miteinander in Einklang zu bringen. In diesem Prozeß wird die Menschheit künstlich und kehrt zum Animismus zurück.
(…)
Plattformbrutalität nimmt viele Formen an. Beweise werden in den kommenden Jahren gesammelt. Durch das Internet hervorgerufene Gewalt geht auf seine eigenen militärischen Ursprünge zurück. Es gibt bereits eine über fünfzigjährige Geschichte, von den Anfängen im Kalten Krieg, um Atomangriffe zu umgehen, über Chinas Great Firewall und Cyberkriegsführung bis hin zu Online-Frauenhandel, Malware, Cyberbullying, Shadow Banning und Krypto-Betrugsmaschen. Selbst die Suche nach Alternativen kann tödlich enden. Man denke nur an die Pager der Hisbollah (die das Internet umgehen sollten), die im September 2024 in die Luft flogen und aufgrund eines ausgeklügelten Mossad-Komplotts viele Tote und Verletzte forderten. Unter diesem Gesichtspunkt ist es eine Frage der Wahl. Das Internet ist zu einem integralen Bestandteil aller menschlichen Aktivitäten geworden, und die gewalttätige Wende ist überall sichtbar. Die Botschaft besteht nicht nur darin, moralische Empörung über willkürliche Angriffe auf andere zu wecken. Die brutale Wende betrifft letztlich alle. Plattformbrutalität geht weit hinaus über die mediale Darstellung von Gewalt, die anderswo stattfindet. Technologische Gewalt erfolgt im wesentlichen aus der Ferne, unsichtbar und indirekt. Viele bemerken nicht sofort die Exklusion tief im Inneren des Codes und der Netzarchitektur, ähnlich wie Datenextraktion bereits heute operiert.
(…)