LI 149, Sommer 2025
Inferno
Elementardaten
Genre: Erzählung
Übersetzung: Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
Textauszug: 4.701 von 28.195 Zeichen
Textauszug
DER HIMMEL war in Aufruhr. Die Vögel hatten längst das Weite gesucht. In der Ferne kräuselte sich eine Lichtwolke und pulsierte in konzentrischen Wellen nach außen. Die ätherischen Umrisse einer Moschee zersprangen, Jahrhunderte der Geschichte waren schlagartig ausgelöscht. Vom Himmel ging die Abwärtsspirale der Zerstörung weiter. Drohnenschwärme machten sich über die Stadt her und zogen mit mathematischem Kalkül wieder ab. Dazwischen fielen Bomben. Sie kreischten und erschütterten die Stadt, die bereits aus sich herausgerissen war. Hitze schlug aus klaffendem Beton, und um die schmelzenden Konturen der Wirklichkeit blutete das Licht. Schreie, scheinbar nicht von dieser Welt, drangen ans Ohr. Menschen gingen in Flammen auf, ihr Anblick brachte die anderen um den Verstand. Wer noch atmete, griff mechanisch nach Decken, um die rasenden Feuer zu ersticken. Vom Meer zogen wie immer die Abendnebel auf, doch sie kamen nicht weit: Rauchschwaden schlugen in sie hinein und peitschten sie wütend empor, bis die zerfetzte Haut des Himmels schwarz anschwoll und sich in schierer Vernichtung um die lodernde Stadt blähte.
Entlang der lebhaften Hauptverkehrsader war kein Gebäude verschont geblieben. Wo eben noch Läden und Restaurants und Zeitungskiosks und Cafés gestanden hatten, schwärten jetzt formlose Stümpfe, die keine Spuren ihrer früheren Bestimmung mehr aufwiesen. Aus den Höhlen der fleischlosen Häuser, mit denen das Feuer bereits fertig war, sickerte bleiches Licht, ein Licht, das nichts Irdisches an sich hatte: Es war krank, als hätte ein Krebs seine Lebenskraft erschöpft. Autowracks lagen auf dem Rücken, geborstenes Glas zerfloß auf fieberndem Asphalt. Alles sah nun gleich und gleich grau aus. Der Krieg hatte die unbegrenzte Ausdehnung der Zeit im Abgrund der Eintönigkeit offengelegt, und es war nichts mehr da, um sie zu füllen. Leere im Nichts. Bizarre Wolken aus Staub und Ruß senkten sich langsam über die Ruinen, über die Körper, die plötzlich dalagen, getötet von Granaten, von Haß, von Trümmern erschlagen.
Schweifte das Auge über die endlosen Reihen von Wohnblöcken, die, gleichsam in den Rohzustand zurückgebombt, wieder zu nackten Linien und Gittern geworden waren, wie vor ihrer Fertigstellung – nur, daß sie jetzt auf Gräbern standen und sich nicht mehr mit Leben füllen würden –, blieb der Blick irgendwann an den drahtigen Bögen und Trägern eines ausgebrannten Busses hängen, der mit dem Asphalt verbacken schien. Am Heck des langen Gerippes baumelte noch der Rest einer Reklametafel, ein farbiges Relikt aus einer anderen Zeit, das auf wundersame Weise überlebt hatte: Es zeigte die Hälfte eines sinnlichen Gesichts mit rot geschminkten Lippen, die an einer Tasse duftendem Kaffee nippen. Wie eine sichtbare Erinnerung an Normalität, an Zivilisation, an blauen Himmel und schattenspendende Bäume, an Arbeit, Familie und Mahlzeiten, an Alltag, an Kaffee.
EIN AUSGEMERGELTER MANN, das Haar von geronnenem Blut verklebt, trat aus den Überresten eines Wohnhauses. In den Armen hielt er einen kleinen Jungen, der von weitem so aussah, als würde er friedlich schlafen. Doch aus dem Bauch des Kindes ragte ein Schrapnell, und da waren Schnitte im Fleisch, an der Stirn und am Hals. Der Mann legte sein Ohr an den Mund des Jungen, um sich zu vergewissern, daß er noch atmete, und hob erleichtert den Blick. Während er die entstellte Umgebung wahrnahm und gleich wieder ausblendete, verlieh ihm das Adrenalin, das seinen erschöpften Körper durchströmte, eine ungeahnte Entschlossenheit. Zwischen den Trümmern entdeckte er einen Motorroller und betete, daß er noch funktionierte. Mit dem Fuß stieß er Geröll von den Rädern, richtete das Gefährt auf und schwang sich auf den Sattel, das bewußtlose Kind vorsichtig an seine Brust gelehnt. Er schaltete die Zündung ein und der Motor sprang an. Mit dem linken Arm hielt er das Kind fest, mit der rechten Hand konnte er lenken und Gas geben. Weitere Gestalten tauchten aus den Ruinen auf und begannen wild durcheinanderzureden, vier oder fünf waren es, und sie sahen aus, als wären sie gerade aus einer Gruft gestiegen, nachdem sie lebendig darin begraben worden waren, ihre Gesichter weiß von Gips, und sie warnten ihn und riefen ihm zu, er solle nicht fahren, er solle hierbleiben, auf Hilfe warten, vorsichtig sein, fahren, nicht fahren, auf Schlaglöcher achten, auf Granattrichter, auf Leichen, auf Blindgänger, er solle so schnell fahren wie der Wind, ja aufpassen, bloß nicht anhalten, am Leben bleiben, heil zurückkommen, leben, leben. Er fuhr los.
Wie weit würden sie kommen? Würde das Benzin bis zur nächsten Stadt reichen? Würde die nächste Stadt ebenfalls in Trümmern liegen, bis sie dort ankamen?
(...)