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Cover Lettre International 65, Dennis Gün
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Inhaltsverzeichnis

LI 65, Sommer 2004

Der australische Traum

Europäisches Erbe und ozeanisches Lebensgefühl - Identitätsprozesse

Das eigentliche Werk der Kultur besteht darin, den Reichtum der Welt zu erschließen, in der wir leben, unser gewöhnliches Alltagsleben an einem Ort zu verdichten und ihm Gehalt zu verleihen. Durch diesen Vorgang wird vor allem unser Bewußtsein bereichert, die Wahrnehmung der uns umgebenden Welt, die dadurch für uns lebendig und sinnlich erfahrbar wird. Die Sinneseindrücke von der Welt werden von unserem Bewußtsein verarbeitet und erhalten auf diese Weise ein zweites Leben, so daß wir die Welt sowohl in unserer Vorstellung als auch realiter bewohnen. Das ist besonders wichtig im Hinblick auf unser Land selbst. Und mit Land meine ich alles, was zum Land dazugehört: die vielen verschiedenen Landschaftsformen, die einheimische Vogelwelt, Tiere, Bäume, Büsche, Blumen und vor allem den Geist des Landes, der in allen diesen Dingen lebendig ist und in ihnen berührt und erspürt werden kann. Malen ist eine Art, sich ein Land in der Vorstellung anzueignen. (Wir verfügen in Australien über eine reiche Tradition der Landschaftsmalerei.) Eine noch weiter verbreitete Möglichkeit ist die Photographie.

Am besten jedoch funktioniert diese Aneignung im und durch das geschrieben Wort, und hier insbesondere durch die Poesie. Das mag daran liegen, daß das Lesen an sich bereits ein Vorgang der Internalisierung, ein „Sicheinverleiben", ist, da Sprache, die Bildhaftigkeit und Rhythmus in sich vereint und die das Auge sowie die Bewegungen unseres Körpers anspricht, die Kunstform ist, in der Gedanken und Gefühle am engsten miteinander verknüpft sind.

Doch dieser Prozeß ist nicht immer einfach. Wir müssen unsere Sehweisen behutsam den Gegenständen anpassen, bevor sie die ganze Bandbreite unserer Gefühle ansprechen und wir ihnen dann, vermittels des Worts, im Bewußtsein neues Leben einhauchen.

Einer der am anschaulichsten schreibenden Schriftsteller unserer Frühzeit ist der Forscher John Oxley. Seine Journals of Two Expeditions into the Interior of New South Wales aus den Jahren 1817 und 1818 sind das Werk eines Mannes, der sich durch echte literarische Sensibilität und eine ausgeprägte, wenngleich manchmal verdeckte Tendenz zur Romantik auszeichnet. Jeden Tag notierte er in seinem Tagebuch, welche Landschaften er durchquert hatte. Solange das, was ihm begegnete, menschenleere Ebenen waren, „Wüsten", wie er sie nennt, rang er um Worte, mit denen er ihre gleichförmige Trostlosigkeit und seine Enttäuschung als Forscher und Autor schildern könnte. Der Stil ist schwerfällig. Dann gelangte seine Reisegesellschaft jedoch in eine felsige Gebirgsregion und erblickte einen Wasserfall - einen Fluß, der „von großer Höhe", wie er schreibt, „ins Tal herabstürzte ... ein Känguruh wurde zu dem Wasserfall gehetzt, sprang hinein und wurde zerschmettert wie der Held (der prachtvolle Hirsch) in Wordsworths Hart-Leap Well". Der Eintrag datiert vom 14. September 1818.

Tags darauf kommt Oxleys gesamter literarischer Apparat endlich in Gang: Es war das Erscheinen dieser poetischen Geistergestalt in der Landschaft, das ihn inspirierende Bild des Wordsworthschen Hirsches im Verein mit dem Land selbst, wodurch die von ihm bereiste Landschaft nun für ihn darstellbar wurde.

„Wir verließen die Stätte", schreibt er, „und stiegen die Schlucht hinauf, in die sich aus gewaltiger Höhe mehrere Flüßchen, wunderschöne Kaskaden bildend, hinabstürzten. Nach fünf, sechs Meilen gelangten wir an die Stelle, an welcher sich der Fluß, nachdem er eine herrliche Hochebene durchquert hat, als Wasserfall in die Schlucht ergießt. Wir hatten bereits schöne, großartige Wasserfälle gesehen, die jeder unsere Bewunderung in nicht geringem Maße weckten, doch der uns hier vor Augen stehende übertraf alles, was wir bisher für möglich gehalten hatten, und wir versanken in Ehrfurcht beim Anblick der erhabenen Natur." Hier endlich kommt sie zur Sprache: die Erhabenheit Australiens. Keine Rede mehr von den engen Grenzen, die uns gezogen sind und die einen unserer frühesten Dichter, Baron Fields, als Reimwort für Australia lediglich failure (Scheitern) finden ließ.

Oxleys Reisetagebuch zeigt beispielhaft, wie eine zunächst unbekannte und befremdliche, keinerlei Regung auslösende Landschaft doch Teil der Gefühlswelt wird. Durch die Macht der Worte beginnt das Land zu leben wie etwas, das man mit dem eigenen Puls wahrnimmt, das sich dem inneren Auge einprägt und daher schließlich in seiner Ganzheit erkannt und erlebt, angeeignet wird.

Anfang der sechziger Jahre machte Judith Wright, eine unserer besten Lyrikkennerinnen und Dichterinnen, eine überraschende Beobachtung. „Mit Ausnahme der Akazie", schreibt sie, „werden in der australischen Lyrik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Bäume, Blumen oder Vögel kaum einmal namentlich genannt oder durch Beschreibung kenntlich gemacht." Und dies nicht etwa, weil es sie in unseren Landschaften nicht gäbe und sie daher nicht zur Sprache gebracht werden könnten, sondern weil Naturbeschreibungen in der Poesie bis dato keinen Platz hatten. Die Assoziationen, über die sie hätten Eingang finden können, waren noch nicht vorhanden. Currawong und banksie verfügten noch nicht über emotionale Valeurs wie Nachtigall oder Rose. Sie spielten keine Rolle in der sich entfaltenden Saga vom australischen Menschen. Wie wir bei Oxley sahen, müssen wir den Naturphänomenen etwas entgegenbringen, damit sie sich uns erschließen. Mit Coleridges Worten gesagt, der hier von der Natur spricht: „Lady, wir empfangen einzig, was wir geben."

(...)

Über die Landschaft, die sie in Australien vorfanden, berichten die frühen Siedler und die Entdecker – Cooks und Banks im Jahre 1770, Tench 1788, Oxley 1817 über das Tiefland im Westen – einstimmig, daß sie mit ihrem halben Dutzend Bäumen pro Morgen Land und ihrem Reichtum an Gräsern einem „Herrenpark" ähnele. Dies war zu der Zeit höchstes Lob.

Sie bezogen sich dabei auf die im 18. Jahrhundert beispielsweise von Capability Brown praktizierte Form der offenen englischen Landschaftsgestaltung im Gegensatz zu den systematisch begrenzten Wegen,den geometrisch angelegtem Gärten von Le Nôtre und jenen Gärten Italiens mit ihren verspielten Brunnen und mythologischen Phantasien. Der englische Garten war ein offener Wald, angelegt oder ergänzt, um auszusehen wie die Natur selbst oder, genauer gesagt, wie die idealisierten Naturlandschaften auf den Bildern von Poussin und Claude Lorrain. Das Erstaunliche für unsere Herren Entdecker war, daß das, was in England Natur sein wollte, auf diesem neuen Kontinent Natur war.

Mit dieser Einschätzung lagen sie freilich falsch. Denn sie sahen nicht, daß auch diese Natur Menschenwerk war. Sie sahen es nicht, weil sie die Hand des Schöpfers und die Art und Weise seines Eingreifens nicht erkannten. Die nämlich bestand, anders als in Europa, nicht darin, mit Äxten zu fällen, was bereits da war, sondern durch die Nutzung des Feuers neues Wachstum zu fördern, mit dem Feuerstab, dem Reibholz die Wälder zu öffnen, damit frisches Grün Tiere zum Grasen anlockte, und weite Räume zu schaffen, in denen sich gut jagen ließ. Eric Rolls schreibt in seinem wunderbaren Buch A Million Wild Acres: „Die dichten Wälder Australiens sind nicht das, was nach zweihundertjährigem energischem Roden übrigblieb, sondern das Ergebnis einhundertjährigen kräftigen Wachstums." Zu diesem Wachstum unserer Wälder kam es, weil die indigenen Völker, die zuvor für dessen Beschränkung gesorgt hatten, nicht mehr da waren.

Die Landschaften, die die ersten Siedler betraten, waren also, wie wir heute wissen, das Werk der indigenen Australier, die hier über vielleicht Jahrtausende hinweg Landschaftsgestaltung zu ihren eigenen Zwecke betrieben hatten. Die so entstandenen Landschaften waren Produkt und Widerspiegelung der Kultur, und zwar genauso wie die Landschaften Italiens, Frankreichs oder Englands. Die Aborigines, so meinen wir heute, haben vielleicht sogar die Vegetation des Kontinents grundlegend verändert, zwar nicht, wie die Europäer, durch die Einführung neuer, ertragreicherer Pflanzenarten, aber zufällig und durch die Nutzung des Feuers.

Vor der Ankunft der Aborigines bestand die Vegetation in großen Teilen Australiens aus trockenem Regenwald. Manche Bäume dieser alten Wälder, die Araukarien (die Bunya-Bunya und die Schirmtanne), bedecken im südlichen Queensland und im nördlichen New South Wales immer noch große Flächen. Ein kleiner Bestand an antarktischen Buchen ist noch in Springbrook im Hinterland der Goldküste vorhanden. Der Eukalyptus war, obwohl bereits im Vormarsch, nur in geringerem Umfang Teil der alten Landschaft. Der Einsatz des Feuers zerstörte die Regenwälder und begünstigte die widerstandsfähigeren Arten. Der Eukalyptus und die Sklerophyllen übernahmen die Vorherrschaft.

Wenn man von Sydney in nördlicher Richtung nach Brisbane fährt, gelangt man ein Stück südlich der politischen Grenze an eine natürliche Grenze, wo die ersten Bunya-Bunyas, Schirmtannen und Grevilleas auftauchen. Für mich ist das jedesmal eine Wiederbegegnung mit der Stimmung, die in der Welt meiner Kindheit geherrscht hat, mit dem bekannten grünen, subtropischen Australien, lange Zeit das einzige Australien, das ich kannte. Eine Welt, die immer üppig grün war, immergrün.

Auf einem Kontinent, der so groß ist wie unserer, gibt es viele Landschaften, jede davon typisch für eine bestimmte Region, keine authentischer australisch als die andere. Ich erwähne das, weil es mich immer verblüfft, wenn ich Vertreter eines bestimmten Typs von Australiern sagen höre, wir würden hier erst ganz zu Hause sein, wenn wir gelernt hätten, unsere Wüsten zu mögen. Mein Australien, in dem ich aufgewachsen bin und dessen Licht, Wetterverhältnisse und Farbpalette meine früheste Wahrnehmung der Welt prägte, war weder trocken noch graugrün, sondern vielmehr dicht und leuchtend. Die alte Vorstellung, Australien sehe überall gleich aus – die Mär von der großen australischen Einförmigkeit – war eben genau das: eine Mär. Sie sollte wohl ein australisches Bedürfnis bedienen: Die Landschaft sollte als Vorbild für eine entsprechende Gleichförmigkeit im Gesellschaftlichen und Politischen herhalten. Vielleicht muß man erst von der Idee der Vielfalt überzeugt sein, bevor man einen Blick dafür entwickelt, daß die einen umgebende Welt vielgestaltig ist.

Wir alle sind fähig, uns die Eigenarten von Landschaften zu erschließen, die anders sind als die, in denen wir aufgewachsen sind, und deren Einzigartigkeit und Schönheit wahrzunehmen. Freilich wird die Landschaft, in der wir uns zu Hause fühlen, die sich am engsten mit unseren Sinnen verbindet, die in unserer Vorstellung erstrahlt, immer die sein, in der wir geboren wurden.

Das, was von den indigenen Australiern auf uns gekommen ist oder vielmehr was wir von ihnen übernommen haben, war nicht unberührte Natur, zumindest nicht an den Orten, an denen wir sie besiedelten, sondern gestaltete Natur, die wir auf unsere Weise umgestalteten.

Dieses Land erhielt den Stempel der Kultur lange vor unserer Ankunft. Geformt wurde es durch den Gebrauch, den man mit ihm gemacht hat, und vermenschlicht durch praktisches wie auch heiliges Wissen. Zudem wurde es von seinen Nutzern tief verinnerlicht, so daß die Eigenarten dieses Landes durch ihre Benennung, durch das Erzählen von Geschichten und die Schaffung von Mythen ein zweites Leben in der Vorstellung und im Sprechen von Frauen und Männern erlangten.

Hier ist eine Vision dieser Vorstellungswelt. Sie ist das Extrakt eines der bekannten Liederzyklen der Aborigines, des Moon Bone Cycle – anders als so viele andere bekannt geworden, weil der Anthropologe R. M. Berndt ihn so anschaulich übersetzt hat: „Immer höher steigt der Abendstern, hängt dort am Himmel. / Männer betrachten ihn, da, wo der Dugong ist, die Wolken und der Abendstern sind, / weit weg von da, wo Nebel ist, Lilien und der Dugong. / Der Lotus, der Abendstern, hängt an seinem langen Stiel, gehalten von den Geistern. / Er scheint dahin, wo der Schatten ist, dahin, wo der Dugong ist, scheint auf das Erdloch, in dem Mondlicht sich sammelt. / Der Abendstern scheint, wirft sein Licht über Milingimbi und über das Volk der Walamba."

Als wir hier ankamen, überzogen wir sozusagen das, was bereits da war, das Ergebnis eines vieltausendjährigen Lebens auf und mit diesem Land, mit einer neuen Schicht von Wissen, Kultur und Bewußtsein. Was wir mitbrachten, ergänzte das bereits Vorhandene, ersetzte es aber nicht und kann das auch nicht, solange sich von dem älteren Wissen noch eine Silbe im Bewußtsein auch nur einer Frau oder eines Mannes erhalten hat.

Ein Land trägt unbegrenzt viele Kulturen, die in Schichten übereinanderlagern oder eine neben der anderen stehen. Es kann viele Male beschrieben und markiert werden. Eine der in ein Land eingeschriebenen Formen ist die gestaltete Landschaft. Überall, wo Menschen siedeln, ist die Landschaft Menschenwerk. Landschaftsformung steckt uns in den Knochen.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024