LI 81, Sommer 2008
Warum ich mich bei Lettre Wohlfühle
Elementardaten
Genre: Hommage
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Textauszug
Weil diese Zeitschrift einen Ort, ja eine ganze Landschaft anbietet, der  allem Gesagten und allem Gedachten, das ein Teilstück der Wahrheit  herbeiträgt, Gastfreundschaft gewährt, und zwar in der Gewißheit, daß  die Wahrheit niemals ganz ist.
Weil solch ein Ort alle  Unterschiede aufnimmt, unter der Bedingung, daß sie sich mit dem Sinn  oder dem Zeichen, die sie entwerfen, an der Bildung meiner eigenen  Identität beteiligen, die mir dabei hilft, in der Welt zu existieren,  bei all ihrer Zerbrechlichkeit sowie in der Gewißheit, daß ihr Zustand  ein vorübergehender ist, was impliziert, daß diese Identität  revidierbar, korrigierbar und vervollkommnungsfähig ist, daß sie in der  Lage ist, Leerstellen zugunsten einer fortwährenden Revision auf sich zu  nehmen.
Diese Struktur verlangt, daß man über das, was einen  ärgert oder wütend macht, über die Unversöhnlichkeit, die durch die  Konflikte der Gegenwart wie der Geschichte geschaffen wird, spricht.  Nicht um die Gewalt aufrechtzuerhalten, die auf der Weltbühne ausgeübt  wird, sondern um sie zu verstehen, um zur Einsicht zu gelangen, die die  Leidenschaften dadurch besänftigt, daß sie die Idiosynkrasien anerkennt,  die die Individuen und die Völker in einer Vision verschmelzen, die die  Grenzen des Nationalen zur Kantschen Utopie des Kosmopolitischen hin  übersteigt. Auf diese Weise ist die Versöhnung heilsam, unter der  Bedingung, daß man einen Ort schafft, an dem der Anteil an  Unversöhnlichem, der im Geheimnis der Herzen lebendig bleiben wird,  überdauern kann.
Es ist also Aufgabe jedes einzelnen, sich mit  dem Bösen im allgemeinen und seinem besonderen Ausdruck in dieser oder  jener Sprache oder Kultur, über die diese oder jene Religion wacht, zu  beschäftigen. Damit will ich nicht sagen, daß die Bösartigkeit des Bösen  völlig aus der Welt geschafft werden wird; es genügt, sie schlicht und  einfach zu bezeichnen, um in der Lage zu sein, einen Diskurs zu  entwickeln, der sie abbaut und brandmarkt; dann werden wir über die  nötigen Waffen verfügen, sie zu bannen.
Die vielen Male, die ich  Gast von Lettre International gewesen bin, haben mir das Gefühl  gegeben, einem neuartigen, transnationalen Stamm anzugehören, dem von  Nomaden, deren Wanderungsgebiet die gesamte Welt umfaßt, einem Stamm,  dessen Mitglieder gemeinsam daran arbeiten, eine kommende Magna Carta zu  zeichnen, die von den entscheidenden Aspekten all unserer Traditionen  des Denkens, Fühlens und Seins gespeist wird.
Was mich selbst  betrifft, so sollen meine Beiträge zu Lettre International  Richtpfähle abstecken für die Schaffung eines postislamischen Orts, der  ein Zeitgenosse des Postchristentums und des Postjudentums wäre, um ein  Europa zu schaffen, dessen Grundlagen ebenso griechisch-römisch wie  jüdisch-islamisch-christlich wären. Wir müssen uns ins Unbekannte der  Zukunft hinein entwerfen, nachdem wir an den Quellen Athens, Roms und  Jerusalems getrunken haben, aber auch an denen Bagdads oder Córdobas.
 
   
   
   
  