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Cover Lettre International, François Fontaine
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LI 112, Frühjahr 2016

Zungen voller Wörter

Von den Opfern der Vergangenheit und den Siegern der Gegenwart

Ich kehre nach einem Jahr in die besetzten Gebiete zurück. Diesmal habe ich dabei, was andere geschrieben haben. Seitdem ich mir eine Chronik meiner Tage in Palästina vorgenommen hatte, verstand ich, daß ich dafür einen mit Hindernissen übersäten Weg bewältigen mußte. Je weiter ich vorankam, desto klarer erkannte ich, daß es nicht genügte, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Es war nötig, zu Fragen der Vergangenheit zurückzukehren und zu den Wandlungen der Sprache, die dazu dienten, diese Geschichte anzuzetteln. Ich sah, daß es notwendig war, unterschiedliche Verwendungen der Sprache in Konfliktsituationen zu untersuchen. Sich wieder mit ihrem Gebrauch in der Politik zu beschäftigen. Mit ihren erlösenden Möglichkeiten, die sie gelegentlich bietet. Mit ihrem wiederholten Scheitern, wenn es um die Darstellung der Wahrheit geht. Während ich mich in meine Lektüre vertiefte, versank ich mehr und mehr im Treibsand der Überlieferung historischer Ereignisse. Unter diesem Sand der Widersprüche begraben liegt die Wirklichkeit, erinnerte ich mich, doch das Schreiben gerät jedesmal in Gefahr, wenn man sich die heikle Aufgabe stellt, ihr einen Namen zu geben. Wörter sind die schwer faßbare Substanz einer Welt, die wir uns vorstellen, sagte ich mir und fühlte mich unbehaglich inmitten von aufgeschlagenen Büchern und zerlesenen Zeitungen. Dies waren ausgewählte Wörter, sagte ich mir wieder, während ich rote Kreise um einige zog, während ich sie aus den Büchern heraus- und in mein Heft schrieb. Die Wörter waren so gesetzt worden, um auf bestimmte Weise zu wirken, wobei diese zuweilen erhellte, oft jedoch verdeckte, was im Hintergrund geschah. Mit dem mir antrainierten Mißtrauen beginne ich nun also erneut mit eigenen Händen und langsamen Schritts meine eigene Erläuterung der Sprache dieses Konflikts.

In der Überzeugung, daß jedes Wort eine gehißte Fahne ist, die den Verständigen Zeichen ist und Unbedachte in die Falle lockt. Diese Gewißheit macht es zur Pflicht, daß ich bei jedem einzelnen Wort innehalte und es sorgfältig auseinandernehme, sein Inneres und seine Umgebung prüfe und zu verstehen suche, welche Leiden es in sich trägt und welches Vergessen. Indes, die Wörter der Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern sind stur. In den Zwängen von Angriff, Verteidigung und Rechtfertigung haben sie sich verhärtet. Sie sind umhüllt von einer Rüstung und haben ihre Seele verloren: Es sind Wörter mit tiefen Folgeerscheinungen, die sich einer vollständigen Darstellung widersetzen. Man muß ihre Metalle aufsprengen, denke ich. In den Trümmern nach ihren Splittern suchen und sie abermals lesen, wenn sie schon zerfetzt sind, und sich vorstellen, was für eine Art von Wunden ihre Entladungen bewirken, selbst wenn sie uns mit Empörung, Staunen und Schweigen erfüllen.

Dichtes Schweigen

Einer nach dem anderen stehen die neun geschriebenen Buchstaben am Seitenrand: Schweigen. Die dünne Graphitspitze kratzte an der Oberfläche des billigen Papiers, das im Begriff war, sich aufzulösen, während ich die einzelnen Teile des Wortes in meinem Heft mit den Notizen aus Palästina voneinander trennte. Schweigen blieb an dem Blatt wie eine Mahnung hängen, die sich danach nur mit Mühe übertragen lassen könnte. Jetzt. Früher. Das Schweigen der leeren Straßen und auf dem ummauerten Markt, als die Aufrufe zum Gebet verstummten und unser Reiseleiter uns zurückließ. Die Stummheit der Soldaten, die uns zusahen, als wir nach Hebron hinaufkletterten, um den Spuren der Palästinenser zu folgen und ihre leerstehenden Häuser anzusehen. Mein unhörbar dahinströmender Atem war erschüttert vom Abstieg der Anhöhe und dem Schweigen hinter jenen Mauern, jenen mit Brettern geknebelten Fenstern. Auf dem verlassenen Friedhof drang dichtes Schweigen durch die Zweige der alten Ölbäume, die noch aufrecht standen. Schweigen auch zwischen den Trümmern der Stadtviertel, die man am Wegesrand versenkt hatte, um die Rückkehr ihrer Bewohner zu verhindern. Schweigende Höfe.

Vergrabene Spielsachen. Gefangen zwischen den stehengelassenen Türen der Verbannungsorte betone ich das Wort „Schweigen“ erneut. Es sammelt sich in den Gängen des Hauses meines Großvaters, verschlossen nach seinem Tod, nach dem Brand, dem Erdbeben. Schlüssel, die niemand aufgehoben hat, die nicht mehr zwischen den Fingern klirren. Alles stumme Ruinen der palästinensischen Geschichte: unbenutzte Gegenstände, die unser Vergessen und die Notwendigkeit des Erinnerns herausfordern. Die Buchstaben des Schweigens auf dem Papier verstreut, das Nachziehen des S mit dem Bleistift, während ich zu dem regnerischen Nachmittag in Hebron zurückkehre und denke, daß „Schweigen“ ein schwer zu durchdringendes Wort ist.

(…)
 

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